Enno Poppe: Rundfunk

(2018)

Enno Poppe ist traditionsbewusst, aber er ist alles andere als ein Traditionalist oder komponierender Historizist. Und doch beschäftigt er sich in jüngster Zeit auffallend intensiv mit einem Genre, von dem er selbst sagt, es sei »insgesamt sehr staubig geworden«, nämlich der Rockmusik.

Fleisch, geschrieben für das Ensemble Nikel und letztes Jahr bei Ultraschall Berlin zu hören, nähert sich in seiner Klanglichkeit auf manchmal verblüffend direkte Weise dem Jazz- oder Funk-Idiom. Und auch Rundfunk für neun Synthesizer, uraufgeführt bei den Donaueschinger Musiktagen, wirkt zunächst einmal wie eine etwas nostalgieselige Hommage an die Klänge, die in den 1960er und 70er Jahren Rock und Jazz prägten: die analogen Synthesizer von Moog über Oberheim bis zum Yamaha DX-7, dazu natürlich auch die legendäre Hammondorgel B3 – also jene Sounds, die sich in den letzten Jahren wieder einer ganz erstaunlichen Beliebtheit erfreuen.

Doch liegen die Dinge etwas komplizierter. Die Klanglichkeit ist historisch, wenngleich keineswegs »staubig geworden«, die Programmierung dieser Klanglichkeit hingegen sehr heutig, weil sie übertragen wird auf moderne Sampler, ohne auf die standardisierten Software-Emulationen zurückzugreifen. Und neun Synthesizer-Spieler erzeugen eine Bühnenpräsenz, die im Vergleich zur weit verbreiteten Laptop-Coolness schon wieder ›historisch‹ anmutet. Die »Idiomatik zu zerlegen, um in der Lage zu sein, eine neue Idiomatik zu finden«. Was Enno Poppe über Fleisch schrieb, gilt auch für Rundfunk.

Rainer Pöllmann

Ohne den Rundfunk gäbe es die Neue Musik in ihrer heutigen Form nicht. Gerade die Erfindung und Entwicklung der elektronischen Musik in den Studios der Sendeanstalten gehört zu den Sternstunden eines Mediums, das etwas über seine eigenen Möglichkeiten und Bedingungen herausfinden wollte und sich dazu Institute zur Grundlagenforschung geleistet hat. Die Idee eines sendereigenen, gebührenfinanzierten Max-Planck-Instituts ist heute kaum vorstellbar, so sehr hat sich die Auffassung vom Radio gewandelt, hin zu einem Tagesbegleitmedium.
Im Bereich der elektronischen Musik gibt es seit Jahrzehnten eine rasende technische Entwicklung. Genauso schnell ist das Tempo des Verschwindens. Ältere Werke können oft nicht aufgeführt werden, weil die Technologien fehlen oder nicht mehr funktionieren oder man schlicht nicht mehr weiß, wie es vor 25 Jahren gemacht wurde. Es funktioniert immer nur die aktuelle Technologie, dadurch wirkt die Klangästhetik extrem zeitbezogen. Popmusik kann auf diese Weise exakt datiert werden: durch ein bestimmtes Preset des DX-7 etwa oder ein Software-Tool.

Komponieren heißt auseinandernehmen. In Rundfunk für neun Synthesizer nehme ich historische Klänge, keine historischen Instrumente. Als Instrumentarium werden neun Computer und neun Keyboards verwendet. Die Klänge kommen aus den 60er- und 70er-Jahren: FM-Synthese, Minimoog und Schweineorgel. Die Pioniere sind Gottfried Michael Koenig, Thomas Kessler, John Chowning, Wendy Carlos und Tangerine Dream. Dadurch dass keine Originalinstrumente, sondern am Computer generierte Nachbauten verwendet werden, klingt alles anders als damals. Dafür habe ich immer alle Klänge gleichzeitig zur Verfügung, kann beliebig viele Stimmen abspielen (der Minimoog konnte immer nur einen Ton auf einmal spielen), kann auch die Stimmung frei einstellen und ständig wechseln. Der Klang wird dekonstruiert und neu zusammengebaut. Die Spieler sind übrigens keine Keyboardvirtuosen, sondern Virtuosen im Umgang mit elektronischen Klängen.

Das Stück besteht aus tausenden von Atomen. Die Musik ist analytisch-emphatisch. Sie wird im Labor zusammengesetzt, beim Komponieren habe ich einen weißen Kittel an. Aber ein Konzert ist kein Experiment. In dem Moment, wo ich nicht mehr verstehe, was geschieht, entsteht Kunst. Die Schönheit liegt in der Überforderung.

Die Software von Rundfunk wurde, wie bei allen meinen elektronischen Stücken, von Wolfgang Heiniger geschrieben. Diesem großen Künstler ist das Stück gewidmet. Darüber hinaus ist Rundfunk eine Hommage an das ensemble mosaik nach 20 wunderbaren Jahren.

Enno Poppe