Enno Poppe: Fleisch

Komponieren heiße, ein Instrument zu bauen, so lautet einer der meistzitierten und oft missverstandenen Sätze von Helmut Lachenmann. »Ein Streichquartett schreiben heißt, zunächst die Idiomatik zu zerlegen, um in der Lage zu sein, eine neue Idiomatik zu finden.« Dieser Satz könnte ebenfalls von Helmut Lachenmann stammen, so nahe ist er an der Ästhetik der Musique concréte instrumentale, geschrieben hat ihn aber Enno Poppe – und schon im nächsten Satz gelangt er vom Streichquartett zur Idiomatik der Rockmusik. »Rockmusik«, so Poppe, »ist ja insgesamt sehr staubig geworden. In diesem Moment fängt sie an, mich zu interessieren. Durch die Zertrümmerung der Syntax kann ich Kräfte freilegen, die von den Stereotypen der Rockmusik verstellt und zugemüllt sind. Dabei geht es nicht darum zu entlarven. Die Instrumente, die Klänge können auch nicht neu erfunden werden. Aber der Sinn entsteht durch das Zusammenfügen der Trümmer.« Poppe trifft damit ins ästhetische Zentrum des Ensembles Nikel, das sich weniger als traditionelles Kammermusikensemble versteht denn als ›Band‹. Dieses Selbstverständnis prägt nicht nur die Interpretationshaltung, sondern auch den Auftritt und die Bühnenpräsenz der vier Instrumentalisten. Nikel steht damit für eine junge Generation von Musikern, die auf ernsthafte und differenzierte Weise die Energie und das Extrovertierte des Rock mit dem Avantgarde- Anspruch der Neuen Musik zu vereinen versucht. Vor den ästhetischen Untiefen des Crossover ist Enno Poppe freilich gefeit. Fleisch nähert sich zwar in seiner Klanglichkeit, mit seinem oft schwebend-swingenden Puls und heftigen energetischen Ausbrüchen phasenweise verblüffend stark dem Jazz und Funk, betont dann aber doch auch jene Distanz, auf die Poppe auch in seinem Statement ironisch abhebt, wenn er von der ›Staubigkeit‹ des ›Rock‹ spricht. Seine kompositorischen Strategien sind denkbar weit entfernt von Pop-Strategien. Poppes Ziel ist es vielmehr, Gegensätze und ästhetische Spannungsverhältnisse nicht zu übertünchen, sondern ihren kreativen Kern freizulegen.

Rainer Pöllmann