Fett – ein typischer Poppe-Titel für ein Musikstück! Oft tragen seine Werke solche Ein-Wort-Titel: Brot, Filz, Freizeit, Knochen,Öl, Rad, Salz, Stoff, Wald, Wespe. Mit einem bildstarken Begriff aus dem Alltag, der einen sofort anspringt mit seiner konkreten Bedeutung. Und bei weiterem Überlegen tut sich ein weiter Assoziationsraum auf. Mitunter führen diese Titel auch absichtsvoll in die Irre oder schlagen diverse Umwege ein. Der Berliner Komponist Enno Poppe, 1969 in Hemer im Sauerland geboren, hinterfragt in seinen Werken Traditionen und Hörerwartungen. Bei seinen Versuchsordnungen sitzt ihm nicht selten der Schalk im Nacken, gleichzeitig bietet er unerwartete, überraschende, faszinierend neue Perspektiven an.
Nun also der Titel Fett für sein 2018/19 entstandenes Orchesterwerk, in diesem Fall höchst sinnfällig angesichts der enormen Dichte in den Strukturen dieser Musik für großes Orchester, das hier gänzlich ohne Schlagzeug auskommt, nicht einmal Pauken wirken mit. In einem Interview im Rahmen der Deutschen Erstaufführung bei musica viva 2019 in München hat Enno Poppe einen wichtigen Hinweis zu seinem Zugang zum instrumentalen Supertanker Orchester gegeben: „Das Komponieren für Orchester ist gerade deshalb so schwer, weil es sich um einen prästabilierten Apparat handelt, dessen vorhandene, historisch vermittelte Eigenschaften die kompositorische Imaginaton allzu oft überlagern. Die Stücke klingen dann einfach nach Orchester, d. h. sie reproduzieren eine bereits vorhandene Idee von Orchesterklang.“ Dem wirkt Enno Poppe mit seinem sehr besonderen Zugriff in Fett entgegen. Er lässt das Orchester mit den Muskeln spielen, indem er den klingenden Massen die Möglicheit zu enormen Akkordschichtungen erlaubt, und hebelt gleichzeitig die im Interview beschworene Stabilität aus: indem er den gesamten Apparat zwingt, aus seiner Jahrhunderte alten Komfortzone zu treten. Denn das, wofür die heutigen modernen Orchesterinstrumente der abendländisch geprägten Welt im 18. und 19. Jahrhundert überhaupt entwickelt wurden, das Dur-Moll-System mit seinen gleichschwebenden zwölf Tönen in den Harmonien, das interessiert Enno Poppe in Fett überhaupt nicht. Er fächert seine Musik mikrotonal auf und baut auf dieser Basis hohe „Akkordtürme“, wie er sie nennt. Diese können aus bis zu vierzig unterschiedlichen mikrotonalen Lagen in den Orchesterstimmen bestehen, was dem Begriff Cluster, jenen Tontrauben, die in der Musik der Moderne als Zusammenballung der zwölf Töne des Dur-Moll-Systems aufkamen, nochmals eine ganze neue Dimension eröffnet. Ein statischer Akkord-Cluster wäre wohl für Fett letztlich auch die unpassende Kategorie, dafür gibt es einfach zu viel Bewegung und Energie in diesem Orchesterwerk.
Abgesehen von dem Sog dieser Musik ist darüber hinaus spannend, dass in Fett auch traditionelle Parameter der westlich geprägten Musik zusammenfallen. Wie kann hier noch zwischen Harmonik und Klangfarbe unterschieden werden? Dies hat Enno Poppe auch bei einem Interview ins Feld geführt: „Ab einer gewissen Kleinheit der Schritte ist beides nicht mehr getrennt voneinander zu behandeln. Die Mikrotonalität selbst verändert oder ‚fingiert‘ Farben, die Klangfarben wiederum verändern die Harmonik. Allein durch die Kleinschrittigkeit entstehen Orchesterfarben weitab jeder Tradition.“ Etwa wenn vier Klarinetten und vier Flöten in mikrotonaler Schichtung aufeinandertreffen, ergeben sich völlig neuartige Kombinationen.
Bei einer derart feinen, kleinteiligen Aufspaltung der Tonhöhren, in Viertel-, oder Achteltönen, kommt zudem die in Europa entwicklte Notenschrift an ihre Grenzen. Und bei der praktischen Ausführung nützt auch eine Stimmgabel nur noch bedingt etwas, vor allem bei einer Rasanz der Einsätze. Würde wirklich jeder tatsächlich gespielte Mikroton einer genauen Frequenzanalyse standhalten? Doch solch ein tendenzieller Kontrollverlust ist von Enno Poppe durchaus einkalkuliert. Der Dramatik dieser Musik kommt dies auf alle Fälle zupass.
Nach der Uraufführung von Fett im Mai 2019 in Helsinki, mit dem Helsinki Philharmonic unter der Leitung von Susanna Mälkki, hieß es in einer Kritik in Helsingin Sanomat „Poppes sich stetig ändernde Akkorde erschaffen endlos neue Farben, sogar soweit, dass sie sich anhören wie Schlaginstrumente oder Elektronik, obwohl diese im Stück nicht vorkommen.“ Mit anderen Worten: Die traditionelle Konditionierung des abendländisch geprägten Orchesters konnte hier tatsächlich geknackt werden.
Eckhard Weber