Die französische Komponistin und Toningenieurin Elsa Biston, die auch ausgebildete Klarinettistin ist und u. a. mit dem IRCAM in Paris zusammenarbeitet, hat ihr Ensemblestück J’étais un désert 2013 komponiert. Im Juni des Jahres brachte das Ensemble Cairn unter der Leitung Guillaume Bourgogne das Werk am Konservatorium von Blanc-Mesnil, nordöstlich von Paris gelegen, zur Aufführung. Dort hat Elsa Biston auch selbst Komposition studiert. Mit der Komposition J’étais un désert reflektiert sie mit musikalischen Mitteln den Akt des Komponierens und wie das schöpferische Tun die eigene Identität bestimmt. J’étais un désert ist für Flöte, Klarinette, Violoncello, präpariertes Klavier und Schlagzeug komponiert. Die Klaviersaiten sind mit dämpfenden Klebepads präpariert, zudem werden ein Holzschlägel und eine Stimmgabel benötigt. Im Schlagzeugpart kommen zwei Guiros, zwei Woodblocks, mehrere Gongs, Crotales, jene kleinen flachen Anschlagglocken, Glockenspiel, Triangel und Große Trommel zum Einsatz. Zum Schlagzeug gehört auch ein Vibraslap mit seinem schnarrenden Klang, den eine Holzkugel beim Stoß auf ein mit losen Metallstiften gefülltes Holzkästchen erzeugt. Auch Alltagsgegenstände werden verwendet: Ein Kunststofflineal, eine Pappschachtel und Keramikgefäße. In der Partie der Klarinette kommt ebenfalls Percussion zum Zuge – zum Beispiel Aluminiumfolie, Backpapier, eine flachen Holzplatte und Schlägel, die üblicherweise für ein Xylophon eingesetzt werden.
J’étais un désert – »Ich war eine Wüste« – lautet der Titel Ihres Ensemblestücks, das wir bei Ultraschall Berlin 2023 hören werden. Was ist der Hintergrund dieses Titels?
Er stammt aus dem 1984 erschienen Roman Vies minuscules (»Leben der kleinen Toten«) von Pierre Michon, ein Schriftsteller und ein Buch, die mich sehr geprägt haben. Die ursprüngliche Stelle in diesem Buch, von der ich bei meinem Titel ein wenig abgewichen bin, lautet: »Ich sagte mich dann von meiner Kindheit los; ich konnte es nicht erwarten, die Löcher zuzuschütten, die zuviele Abwesenheiten eingebrannt hatten (…). Die Wüste, die ich war, sie wollte ich mit Wörtern bevölkern, ich wollte einen Schleier aus Schrift weben, um die leeren Augenhöhlen meiner Front zu verbergen; ich konnte es nicht erreichen; die starrsinnige Leere des Blattes infizierte die Welt, aus der ich alles bisherige wegzaubern wollte: Der Dämon der Abwesenheit triumphierte.«
Eine beeindruckende Stelle, zweifellos. Worin konkret fanden Sie die Inspiration für die eigene Komposition?
Genau in diesen Sätzen und im gesamten Buch. Ich liebe solche Stellen: Während er diesen Roman schreibt, seinen Erstling – Pierre Michon, der aus einem Dorf im Zentralmassiv stammt, hat ziemlich spät mit dem Schreiben angefangen – verändert er sich, er füllt die Leere, sie wird mit Wörtern gefüllt und er wird Schriftsteller. Sei es in der Literatur oder in der Musik, ich denke, auch in jeder anderen schöpferischen Kunstform: Auf diese Weise geht man immer, finde ich von einem anderen Punkt aus als von dem, wovon die Rede ist, von dem, was beschrieben wird, was zu einem gewissen Maß die Abstraktion unserer Absicht ist – denn das Schreiben bewirkt von sich selbst, dass schreibend eine Veränderung im Schreibenden stattfindet. Der einzige Weg, das, was man schreibt, und das, was man ist, möglichst anzunähern, wäre gerade diese Veränderung, die das Schreiben bewirkt, zu »erzählen.«. Das waren die Gedanken, die ich beim Komponieren von J’étais un désert hatte.
Also eine Reflektion des kreativen Prozesses …
Ich mag an diesen Sätzen von Pierre Michon auch besonders die Idee, dass sich unsere Persönlichkeit aus dem zusammensetzt, was wir tun, wenn wir etwas herstellen, wenn wir etwas erschaffen. Und nicht das Gegenteil, dass unsere Persönlichkeit sich sozusagen in unsere Werke ergießt, was ja die verbreitete Vorstellung von Kunstschaffenden ist.
Wie konnte dies in ein musikalisches Konzept umgesetzt werden?
Der Titel des Stücks J’étais un désert ist der ausschlaggebende Impuls für das Stück: Es war genau die Art und Weise, wie ich das Schreiben von Musik empfand, als ich mitten im Schreibprozess war. Es handelt sich somit um das Verlangen, diese Transformation zu erkunden. Dies vollzieht sich vor allem im ersten Teil meines Stücks, zunächst in einer Regungslosigkeit, dann einem erneuten Beginnen und einem steten Zusammenfügen von identischen Materialien in einem Austausch zwischen dem Solo der Flöte und dem Solo des Klaviers. Der Motor des gesamten Stücks ist letztlich die Konfrontation zweier Geschwindigkeiten, zweier unterschiedlicher Bewegungen, zweier Tendenzen: einerseits, eine zielstrebige Bewegung, mit einer starken, motorischen Ausrichtung, andererseits die Tendenz, auf der Stelle zu stehen und zu zögern, etwas machen und noch einmal wiederholen. Das führt zur Frage: Sind diese beiden Tendenzen etwas Widersprüchliches? Oder kann im Gegenteil eine Bewegung diese beiden Tendenzen gleichzeitig in sich haben? Die Flöte ist also auf jeden Fall der treibende Motor im Stück, sie ist wie eine Protagonistin, vielleicht auch wie eine Erzählerin. Die anderen Instrumente bauen in ihrem Zusammenspiel gemeinsam die Motive auf und zerlegen sie in ihre Bestandteile. Sie haben eher die Funktion eines nachhallenden Hintergrunds, auch einer suggestiven Grundierung – jedoch in der ständigen Interaktion mit der Flöte, allerdings auf eher indirekte und auf unerwartete Weise.
Welches Klangideal verfolgen Sie in J’étais un désert allgemein?
Der Klang sollte ein wenig rau sein, trocken, gewissermaßen hart. Farben werden evoziert, ohne sie allerdings wirklich voll zur Geltung zu bringen.
Was ist bei der Interpretation von J’étais un désert besonders zu beachten? Was sollte vermieden werden?
In die falsche Richtung würde es gehen, wenn womöglich auf Schönheit oder Expressivität abgezielt würde oder auch wenn die Konturen verwischen würden. Stattdessen ist J’étais un désert rhythmisch ziemlich herausfordernd für die Ausführenden. Die rhythmische Präzision ist in diesem Stück sehr wichtig.
Interview: Eckhard Weber