„Ein Blutrinnsal kam unter der Tür hervor, (…) lief auf die Straße hinaus, bewegte sich in gerader Linie über die unregelmäßigen Gehsteige, über Stufen hinab und Dämme empor, (…) bog einmal rechts und einmal links ab, schlug vor dem Haus (…) einen rechten Winkel, (…)“
(Gabriel García Márquez, Hundert Jahre Einsamkeit.
Zitat am Anfang der Partitur von PS: and the trees will ask the wind)
„Sie folgte dem Blutfaden in umgekehrter Richtung und ging, die Quelle suchend, (…) lief auf der Straße geradeaus, bog dann einmal rechts, einmal links ab, (…) kam zur Plaza und trat in ein Haus, in dem sie noch nie gewesen war, (…) und Úrsula sah den Ursprung des Blutrinnsals, (…).
(Gabriel García Márquez, Hundert Jahre Einsamkeit.
Zitat am Anfang der Partitur von PS: and the trees will ask the wind)
Elnaz Seyedi, Ehsan Khatibi, wie kam es zu dieser Zusammenarbeit, um als Komponist:innen Stellung zu der Situation im Iran zu beziehen?
Wir haben 2020 zusammen ein kurzes Stück zu Albert Camus‘ Der Fremde für einen Kompositionswettbewerb vom Nationaltheater Mannheim komponiert, in dem wir uns mit dem Licht, das bei Camus werksübergreifend von zentraler Bedeutung ist, beschäftigt haben. Als wir mit dem Stück fertig waren, hatten wir noch viele Materialien übrig, die uns sehr gefielen. Wir haben uns entschieden, die Arbeit mit dem Licht unabhängig von Camus‘ philosophischer Lichtmetaphorik fortzusetzen und das Licht als kompositorisches Material weiter zu bearbeiten. Ein wichtiger Aspekt für PS: and the trees will ask the wind war, Licht auf einige Ereignisse zu werfen, die über die nationale Gebundenheit hinausgehend auf die Probleme unserer Zeit hinweisen können.
Wie verlief Ihre gemeinsame Zusammenarbeit?
Es war eine der intensivsten Erfahrungen, die wir beim Komponieren hatten. Aus einer kleinen Idee entstanden sofort im Gespräch viele interessante Möglichkeiten. Über jede Möglichkeit gab es dann viele Diskussionen, die teilweise sehr kritisch und manchmal anstrengend waren. Aber was wir dabei sehr genossen haben und immer noch genießen, war ein Vertrauensgefühl, das irgendwann für jeden von uns entstand: Ich kann während der Zusammenarbeit genauso hart sein, wie ich mit mir alleine bin. Wenn wir uns nicht einig waren, diskutierten wir so lange, bis wir eine Lösung hatten, mit der wir beide zufrieden waren. Je schwieriger die Lösung war, desto intensiver war das Glücksgefühl.
Zu Beginn bringen Sie in der Partitur zwei Zitate aus dem Roman Hundert Jahre Einsamkeit von Gabriel García Márquez. Inwiefern hat sie dieser Text für Ihr Stück angesprochen?
Die Entscheidung für diese Zitate kam ziemlich spät, als das Stück fast fertig war. Wir waren einerseits überzeugt, dass der starke Abstraktionsgrad unserer inhaltlichen Materialien eine richtige künstlerische Entscheidung für das Stück ist, anderseits war es für uns nicht klar, wie diese Abstraktion ankommt. Daher suchten wir nach einer Möglichkeit, unser Publikum indirekt zu begleiten, in die abstrakte Landschaft geführt zu werden.
Wer von Ihnen beiden war beim Entstehungsprozess für die Videoebene und für die Performance-Ebene zuständig?
Die Entscheidung mit den dokumentarischen Videomaterialien zu arbeiten, kam zu Beginn unserer Arbeit an dem Stück. Im Laufe des Komponierens kamen die weiteren bildlichen Ebenen dazu. Die performative Ebene wurde auch zu Beginn als kompositorisches Material gesetzt. Beim Komponieren hatten wir keine Arbeitsteilung. Wir haben alle künstlerischen Entscheidungen gemeinsam getroffen. Die Videoaufnahmen haben wir gemeinsam ausgewählt, diskutiert und daran gearbeitet.
Was wird im Video gezeigt?
Das Video besteht u. a. aus dokumentarischem Material. Zugrundeliegend sind zwei kurze Aufnahmen, in denen ein Ereignis aus zwei verschiedenen Perspektiven mit gewissen Abständen gezeigt wird. Mit diesen Video-Aufnahmen hängen die weiteren Video-Materialien, aber auch die klanglichen, textlichen und optischen Elemente zusammen.
Wie verhält sich Ihre Musik zu den Bildern?
Bild und Klang sind in dem Stück miteinander eng verzahnt und bilden ein einheitliches kompositorisches Gewebe. Das eine ist nicht ohne das andere zu denken. Sie reagieren aufeinander, stimmen überein, trennen sich voneinander, unterbrechen sich und treffen wieder aufeinander.
Wie konnten Sie vorbeugen, dass ihre Klänge zur bloßen Filmmusik werden?
In unserem Stück handelt es sich nicht um Film, sondern um das Komponieren mit den unterschiedlichen Disziplinen. Die Videoaufnahmen sind gleichberechtigt wie die Klänge, Texte und die performative Ebene komponiert. Daher bestand gar nicht diese Gefahr.
Wie würden Sie Ihre Musik in diesem Stück charakterisieren?
Die Klänge entstanden überwiegend aus dem inhaltlichen Kontext der Komposition. Viele Klänge werden von Spachteln in unterschiedlichen Größen und Stimmungen erzeugt und mit verschiedenen Techniken, die wir während der Arbeit entwickelt haben. Der Spachtel ist an sich ein ambivalentes Werkzeug. Man kann damit eine Fläche zudecken, aber auch frei kratzen und aufdecken. Die gesamten Klänge in dem Stück – und nicht nur die Spachtel-Klänge – folgen teilweise dieser Ambivalenz. Optisch gesehen kann auch der Spachtel durch die verschiedenen Spielarten, wie sie in dem Stück vorkommen, bestimmte Assoziationen hervorrufen und somit auf die Wahrnehmung der Klänge wirken.
Wie interagieren die Instrumente miteinander?
Wir haben eine sehr ungewöhnliche Besetzung. Dazu haben wir die Klangobjekte und die elektronischen und konkreten Klänge. Sie werden aber konzeptuell miteinander in Verbindung gebracht und prägen als Teil des musikalischen und performativen Gewebes neben den weiteren Materialien den Verlauf des Stücks.
Was wünschen Sie sich für die Rezeption ihres Werks?
Wir wollten auf einige Ereignisse ein Licht werfen und „die radikale Asymmetrie zwischen einem starken Vergessenswunsch einerseits und einem starken Erinnerungsgebot andererseits“, wie es Aleida Assmann Formen des Vergessens formuliert, künstlerisch darstellen. Wir haben bis jetzt sehr unterschiedliche Reaktionen erfahren. Wir sind sehr überrascht, wie genau und zutreffend manche Fragen und Kommentare über das Stück waren. Durch die starke Abstraktion der inhaltlichen Materialien des Stücks kamen auch sehr unterschiedliche Rezeptionen, die für uns sehr spannend und teilweise bereichernd waren.
Welche Chancen und Grenzen sehen Sie, um politische Botschaften oder gesellschaftliche Themen in einem musikalischen Werk zu transportieren?
Politik ist heutzutage von unserem Leben nicht wegzudenken, leider! Wir befinden uns in der Politik und mitten in den gesellschaftlichen Ereignissen. So ist jede künstlerische Tätigkeit auf irgendeine Weise davon geprägt. Dennoch ist es auf keinen Fall unser Ziel, in unserem Stück politische Botschaften zu vermitteln, vielmehr wollen wir Situationen erfinden, in denen die Ereignisse, welche im realen Leben zum Teil brennend schrecklich sein können, auf künstlerische Weise neu betrachtet werden und zum Nachdenken anregen.
(Interview: Ecki Ramón Weber)
- Vergessen geschieht lautlos und unspektakulär.
- Jeder weiß noch, worum es geht. Niemand hat es vergessen, aber …
- Der größte Teil geht verloren. Das ist die älteste Selbstbeschreibung des menschlichen Gedächtnisses, die für Individuen wie für Gesellschaften und Kulturen gilt.
- Die radikale Asymmetrie zwischen einem starken Vergessenswunsch einerseits und einem starken Erinnerungsgebot andererseits bildet die Asymmetrie von Macht und Ohnmacht in einer Gewaltbeziehung ab und setzt sie fort.
- Wer das Licht in die Ecke trägt, verdunkelt den Rest des Raumes. (Francis Bacon)
- Mit der Löschung einer Spur wird das Fortleben einer Person oder eines Ereignisses im Gedächtnis der Nachwelt ebenso unmöglich wie die Aufdeckung eines Verbrechens.
- Die ignorierten Objekte und Personen führen ein Schattendasein, denn „man sieht nur, die im Licht sind, die im Dunkeln sieht man nicht“.
- Der Entzug von Aufmerksamkeit kann umgehend rückgängig gemacht werden, wenn es sich um Fragen der alltäglichen Wahrnehmung und Fokussierung handelt. Dann kann das Auge jeder Zeit umschalten und Gegenstände, wie zum Beispiel im Denkmal, das durch den routinisierten Blick „unsichtbar“ geworden war, aus dem Schattendasein im Hintergrund wieder in den Vordergrund des Interesses zurückholen.
- Die Strahlkraft der einen Erinnerung dunkelt anderes ab und verfestigt auf diese Weise blinde Flecken im historischen Gedächtnis.
- Beim Zudecken wird ein Problem oder inkriminiertes Ereignis lediglich aus der Kommunikation entfernt. Jeder weiß noch, worum es geht, niemand hat es vergessen, aber es hat seine emotionale Aufdringlichkeit verloren.
- Wir können kein Feuer machen, wir können keine Gebete sprechen, wir kennen auch den Ort nicht mehr, aber wir können die Geschichte erzählen. (Schmuel Josef Agnon, in: Gershom Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt am M., Suhrkamp, 1967, S. 384)
(Zitate am Ende der Partitur von PS: and the trees will ask the wind aus: Aleida Assmann, Formen des Vergessens, Göttingen: Wallstein, 2016, Seiten 30, 22, 67, 134, 43, 21, 24, 24, 223, 22, 220)