Der aus Aarau im nordschweizerischen Kanton Aargau stammende Komponist Dieter Ammann wird dieses Jahr im Mai 60 Jahre alt. Er machte zunächst als Instrumentalist Karriere: In den 1980er und frühen 1990er Jahren bewegte er sich als Pianist und zudem als Trompeter und E-Bassist im Jazz, im Free-Funk sowie in der improvisierten Musik. Er arbeitete mit Künstlern wie dem US-amerikanischen Jazz-Saxophonisten Eddie Harris und dem deutschen Sänger Udo Lindenberg zusammen. Erst später kam Dieter Ammann zur Komposition, studierte in Basel bei Roland Moser und Detlev Müller-Siemens und erhielt prägende Anregungen in Kompositionskursen bei Witold Lutosławski, Dieter Schnebel, Niccolò Castiglioni und Wolfgang Rihm.
Heute ist Dieter Amman Professor für Musiktheorie und Komposition an der Musikhochschule Luzern. In seiner Biografie auf der Website der Hochschule heißt es: „Dieter Ammann schreibt wenig, weil langsam. Seine minutiös ausnotierte Musik steht im Spannungsfeld zwischen höchster Differenziertheit und roher Vitalität.“ Der Komponist gibt seinen Werken sehr viel Zeit zum Reifen. Manchmal schreibe er sogar gerade einmal einen Takt an einem Tag, hat er schon vor Jahren freimütig zugegeben, manchmal trete er auch vollends auf der Stelle. Selbstkritische Erwägungen und künstlerische Skrupel sind bestimmende Momente des Kompositionsprozesses. Genau dies reflektiert die Musik von Dieter Ammann auch oft, beispielsweise sein Klaviertrio Après le silence (2004/05). Der französische Titel, „nach der Stille“, kann als Hinweis auf den Kontext der Entstehung gelesen werden. Tatsächlich ging der Komposition dieses Stücks eine Phase künstlerischen Schweigens voraus. Aprés le silencemarkiert als Werk ein neu erwachtes Mitteilungsbedürfnis, ein erfrischtes Komponieren – „nach der Stille“.
Das Stück steckt voller Überraschungen in seinem Verlauf, die musikalischen Artikulationen wirken wie spontane Äußerungen. Dieter Ammann präsentiert darin zunächst eine breite Palette unterschiedlicher, sehr heterogener Klangereignisse. Diese vorwiegend kleinteiligen Strukturen verbinden sich allmählich zu längeren Gebilden. Doch die Entwicklung ist keineswegs linear oder in weiter Perspektive zielgerichtet, sondern disruptiv, mit plötzlichen Unterbrechungen und Gegenstrategien. „Schon nach wenigen Takten reibe ich mich an den Normen, die ich entdecke und die ich glaube, aufgestellt zu haben“, hat Dieter Ammann diesbezüglich einmal bemerkt. Auf vielfältige Weise wird das Geschaffene sogleich wieder in Frage gestellt.
Wenn sich in Après le silence beispielsweise aus Rhythmusfeldern expressive Gesten lösen, verschmelzen diese bald wieder zu neuen Rhythmusfeldern. Auch ostinate Patterns, typisch für Minimal Music, treten in eigenwillig geprägten Spielarten auf. Doch auch dieses Getriebe zerfasert bald wieder: Entweder fallen die gerade erst erstellten Strukturen auseinander oder sie werden zu improvisatorisch wirkenden, virtuosen Melodieverläufen, bis sich die Bewegungsdynamik ausläuft und sich die Klänge zurückziehen. Oder das Klanggewebe dünnt sich aus und wird zu fahlen Klangfeldern. In der zweiten Hälfte des knapp zwanzigminütigen Stücks für Klaviertrio hängt den unbändigen Energieausbrüchen bald eine Schwere an. Der anfängliche unbefangene Bewegungsdrang, die spontanen Ausbrüche des Beginns sind offenbar nicht mehr möglich.
Diese vielfältigen Kontraste auf engstem Raum, diese ständigen Umschläge lassen Après le silence wie ein in Musik gefasster Bewusstseinsstrom erscheinen, bei dem unterschiedliche Gedankensprünge und extreme, vor allem auch widerstreitende Gefühlsregungen impulsiv aufeinanderfolgen. Gerade diese inneren Widersprüche, diese unterschiedlichen Vorstöße, Umwege, Rückzugsstrategien und Neuanfänge machen Après le silence zu einer reflektierten, zutiefst menschlichen, lebensnahen Musik. Trotz der inhärenten Zweifel generieren die darin angelegten strukturellen Brüche eine ungeahnte Energie. Genau dieser Aspekt könnte eine Perspektive bieten in Anbetracht des sich in Zeiten der Klimakrise und der Pandemie immer deutlicher abzeichnenden Scheiterns von linearen Entwicklungsmodellen, von Optimierungsstrategien und von den Narrativen unendlichen Wachstums.
Eckhard Weber