« …il n’y a pas de voix neutre »
»…es gibt keine neutrale Stimme«
(Roland Barthes)
»Leblose Dinge haben keine Stimme« behauptete einst Aristoteles in seiner Schrift Über die Seele und überging dabei großzügig alle Pflanzen und jene Tiere, die zumindest nach menschlichem Ermessen ›stimmlos‹ sind. Dass die Stimme zum Kern des Lebendigen, ja des Menschlichen zähle, ist aber spätestens seitdem allgemeine Überzeugung.
Die Stimme: schon der Begriff ist mehrdeutig. Ist die Sprechstimme gemeint oder die Singstimme? Klar ist jedenfalls: seine Stimme zu erheben oder auch jemandem eine Stimme zu geben, das sind Momente, in denen das autonome Subjekt sich äußert. Bis hin zur ›Stimme‹ an der Wahlurne.
Es geht nie nur um musikalische Sachverhalte, wenn von der Stimme die Rede ist. Und das macht die Sache kompliziert. Nicht zuletzt für die zeitgenössische Musik.
Der Eigensinn der Stimme
Über Jahrhunderte ist die Geschichte der europäischen Kunstmusik eine Geschichte der Vokalmusik. Von den kunstvollen Werken der Ars nova über die abenteuerlich virtuosen Madrigale der Renaissance und den vokalen Wahnsinn der Barockoper bis zu Bach ist die Vokalmusik die ›eigentliche‹ Gattung. Erst im späten 18. Jahrhundert übernimmt die Instrumentalmusik die Führungsrolle, und es ist kein Zufall, dass just im Zeitalter der Aufklärung auch die Idee einer ›autonomen‹, ja ›absoluten‹ Musik entsteht – eine Idee, für die die Stimme nicht das ideale Ausdrucksmittel ist.
Denn mehr als jede Geige oder Flöte ist die Stimme selbst schon Bedeutungsträger. Träger einer Bedeutung, die sich nicht kompositorisch herausfiltern lässt, weil sie der Stimme selbst eingeschrieben ist. Ein Sänger benutzt seine Stimme nie nur als Instrument, er ist das Instrument. Natürlich, auch eine Geige gleicht keiner anderen, und kein Geiger. Beim Sänger ist diese Differenz jedoch naturgegeben. Sie ist im Körper selbst verankert – und damit existenziell.
Dieser Existenzialismus ist es, der die Stimme und den Gesang und den Sänger zum Objekt leidenschaftlicher Bewunderung oder ebenso heftiger Ablehnung macht. Um Sänger tobt bis heute ein Glaubenskrieg, der so bei Pianisten unvorstellbar wäre. Und das gilt übrigens für die ›Klassik‹ ebenso wie für den ›Pop‹.
»Keine Stimme ist neutral«, schreibt der französische Philosoph Roland Barthes in einem Essay über Die Musik, die Stimme, die Sprache und fasst in diesem einen Satz das Wesen der Stimme präzise in Worte. Irritierenderweise fährt er jedoch fort: »Jede Stimme ist von dem, was sie sagt, durchdrungen«, und das ist eigentlich das Gegenteil dessen, was er zuvor konstatiert und was nach allgemeinem Dafürhalten die Stimme auszeichnet. Dass nämlich das Medium stärker als die ›message‹ ist – und das ›Wie‹ das ›Was‹ überlagert. Man muss also Barthes‘ Satz gegenläufig interpretieren. Die ›Botschaft‹, transportiert über den Text, tritt hinter den Eigencharakter der Stimme zurück. Friedrich Nietzsche hat das in einem Fragment so ausgedrückt: »Das Verständlichste an der Sprache ist nicht das Wort selber, sondern Ton, Stärke, Modulation, Tempo, mit denen eine Reihe von Worten gesprochen wird, kurz die Musik hinter den Worten.«
Der Eigensinn der Stimme, das Inkommensurable und Unbeherrschbare, damit Unkomponierbare, war vielen Komponisten des 19. Jahrhunderts indes suspekt. Im deutschsprachigen Raum zog sich die Vokalmusik über weite Strecken in die Privatheit des Liedes zurück, anders als in Italien oder auch Frankreich, wo die Oper als publikumsträchtige und repräsentative Gattung den Gesang öffentlich zelebrierte.
Die Nachkriegs-Avantgarde verstand sich als Erbe dieses Ideals einer ›absoluten Musik‹. Vor allem in der unmittelbaren Nachkriegszeit war die ›Reinheit der Tonkunst‹ der Gegenentwurf zur ideologischen Inanspruchnahme der Kunst durch totalitäre Regimes, vor allem natürlich die Nazis. Die Stimme hatte in diesem Spiel der Strukturen keinen Platz.
Natürlich, es gab Ausnahmen. Hans Werner Henze hat früh die Schönheit des Belcanto gegen die Nüchternheit des Serialismus verteidigt und ging schon bald eigene Wege. Und Luigi Nono nutzte das der Stimme innewohnende Pathos und ihre expressive Macht ganz bewusst für eine Musik, die auch ein teils sehr unmittelbares gesellschaftliches Anliegen transportieren sollte.
Größeres Interesse erregte die Stimme aber erst wieder Anfang der 1960er Jahre. Dieter Schnebel lotete in Werken wie Glossolalie 61 oder Für Stimmen (…missa est) die Ausdrucksvielfalt der Stimme auf bis dahin ungeahnte Weise aus und eröffnete ihr all jene Bereiche, die bis dahin dem Ideal des ›schönen Klangs‹ zum Opfer gefallen waren. Luciano Berio schrieb für seine Frau Cathy Berberian mit Sequenza III für Stimme solo ein ikonisches Werk der Nachkriegs-Avantgarde. Und György Ligeti erkundete mit Aventures und Nouvelles Aventures den Grenzbereich zwischen vokaler Konzertmusik und Musiktheater, in dem dann auch Mauricio Kagel tätig war und der sich als ausgesprochen zukunftsträchtig erweisen sollte. Komponisten wie Aribert Reimann oder Wolfgang Rihm setzen mit einer hochvirtuosen, aber letztlich nicht-experimentellen Stimmbehandlung die romantische Tradition des Singens fort, letzte Vertreter des romantischen Klavierlieds, das ansonsten weitgehend ausgestorben oder marginalisiert ist.
Komponieren für die Stimme
Wirft man einen Blick auf die gegenwärtige Neue Musik, scheint die Vokalmusik ganz selbstverständlich angekommen zu sein. Es gibt eine ausdifferenzierte Szene von Interpreten, mit Chören wie dem SWR Vokalensemble, dem RIAS Kammerchor oder Accentus, größer besetzten Ensembles wie der Schola Heidelberg oder neuerdings auch Phønix16 oder hochspezialisierten Solisten-Ensembles wie den Neuen Vocalsolisten oder Exaudi. Und natürlich gibt es zahlreiche außerordentliche Sängerinnen und Sänger, die solistisch agieren, von Barbara Hannigan oder Donatienne Michel-Dansac bis Jennifer Walshe.
Und nicht selten schreiben Komponisten speziell für diese Künstler und ihre ›geläufige Gurgel‹, nicht anders als dies bei Komponisten des Barockzeitalters der Fall war. Hans Abrahamsen komponierte seine Orchesterlieder let me tell you für Barbara Hannigan, Carola Bauckholt mehrere Werke speziell für Salome Kammer. Salvatore Sciarrino hat seine Madrigalzyklen den Neuen Vocalsolisten auf den Leib geschrieben, ebenso wie Georges Aperghis seine unglaublich virtuose Wölfli-Kantate. Und mit dem vokalen Kammer-Musik-Theater haben die Neuen Vocalsolisten ohnehin eine ganz eigene Gattung bei Komponisten begründet.
Gibt es also eine besonders enge Verbindung zwischen Vokalisten und Komponisten? Notgedrungen, weil – und damit kommen wir auf Roland Barthes zurück – ein Komponist, schreibt er für Stimme(n), weniger als bei Instrumentalisten für eine ›neutrale‹ ›Besetzung‹ schreibt als vielmehr für ganz bestimmte Personen. (Im Chor mag das Kollektiv diesen Effekt noch etwas abmildern, in solistischen Besetzungen ist er unausweichlich.) Die Charaktere (und damit sind nicht nur die Stimmcharaktere gemeint) beeinflussen das kompositorische Denken und Erfinden. Das kann zu wunderbaren Symbiosen führen, zu einer Eskalationsspirale der Erfindungskraft. Es kann aber auch zu einem Hemmnis werden, wie bei jenem Komponisten, der einen Auftrag ablehnte, weil er nicht »für Sophia Loren und Marlon Brando« komponieren wollte, sondern sich, um im Bild zu bleiben, Akteure wünschte, deren Persönlichkeiten sich nicht vor den kompositorischen Willen schieben.
Und so scheint auch heute noch eine gewisse Distanz, ein Gefühl der Fremdheit gegenüber der Stimme zu herrschen. Helmut Lachenmann, einer der bedeutendsten Komponisten der Nachkriegszeit, hat viele Jahrzehnte einen großen Bogen um die Singstimme gemacht. Sie schien ihm zu aufgeladen mit Bedeutung. Auch in seinen frühen Chorwerken Consolation I und Consolation II ging es ihm in den späten 1960er Jahren um Klangfarben und Strukturen, nicht um das Unverwechselbare einer einzelnen Stimme. Und erst nach seiner Oper Das Mädchen mit den Schwefelhölzern hat er in Got lost für Stimme und Klavier die Solo-Stimme ein einziges Mal ins Zentrum gestellt.
Die Welt der zeitgenössischen Musik ist im Wesentlichen instrumental, die Stimme ist darin ›das Andere‹. Erhalten Komponisten einen Auftrag für ein A-cappella-Werk, geschieht es nicht selten, dass sich im Verlauf des Kompositionsprozesses, quasi durch die Hintertür, doch wieder Zusatzinstrumente einschleichen – als ob sich auch erfahrene Komponisten festhalten müssten an einem instrumentalen Korsett. Oder aber, es wird die Stimme so instrumental geführt, dass ihre Eigenarten und die individuellen, körperlichen Aspekte weitgehend unterdrückt werden. Nicht wenige Komponisten gehen diesen Weg, und es können dabei Meisterwerke entstehen.
Auf grandiose Weise auf die Spitze getrieben hat den Konflikt der Komponist Simon Steen-Andersen in seinem Musiktheater Buenos Aires. Ein Musiktheater für fünf Sänger und fünf Instrumentalisten, in dem den Sängern buchstäblich die Stimme genommen wird. Den ganzen Abend hindurch singen die Neuen Vocalsolisten keinen einzigen ›normalen‹ Ton, während anderthalb Stunden sollen sie kein einziges Mal ihre gesangliche Virtuosität und ihre enorme Erfahrung mit experimenteller Vokalmusik zur Geltung bringen. Aber immerhin an einer Stelle dürfen sie diesen Verlust auch explizit beklagen. Wenn sie nämlich, stimmlos mit Stimmverstärker für Kehlkopfpatienten, das Quartett Mi manca la voce aus Gioacchino Rossinis Oper Mosè in Egitto krächzen. Was in der Oper des 19. Jahrhunderts noch als gattungstypische Paradoxie akzeptiert wurde, dass nämlich vier Sänger im schönsten Belcanto den Verlust ihrer Stimme beklagen, wird bei Steen-Andersen zur radikalen Auseinandersetzung mit der Deformation der Stimme im 21. Jahrhundert.
Die Stimme als Medium des Existenziellen
Die ›Instrumentalisierung‹ der Stimme, bis hin zur Selbstverleugnung, grenzt die Neue Musik übrigens scharf von der traditionellen Oper und vor allem von der Popmusik ab. Dort wird der Existenzialismus der Stimme, von dem schon öfter die Rede war, noch viel umfassender gepflegt, geht es dort doch im Wesentlichen um die Aura der Stimme, um ihre (vermeintliche oder tatsächliche) Authentizität.
Pop war über Jahrzehnte eine Domäne der Sänger. Die Elementarform des Pop ist der Song, und der wird getragen von einer Stimme. Das in den 1960er und 1970er Jahren obligatorische ›Instrumental‹ diente letztlich nur als Ruhepause. Und welche unglaubliche Vielfalt von Stimmen haben sechzig Jahre Pop hervorgebracht: die androgyne Energie von Freddy Mercury, die transluzente, naiv-abgründige Stimme von Björk. Das Näseln von Prince. Oder, um noch einige Jahrzehnte weiter in den tiefen Brunnen der Pop-Historie hinabzusteigen, die unverstellte Virilität der Stimmen von Mick Jagger und Elvis. Ab und an wird die Stimme mit elektronischen Mitteln wie Talkbox oder Vocoder verfremdet, was zum Beispiel Cher und Madonna Millionen-Hits bescherte. Und dann gibt es ja auch noch jene »Nicht-Sänger« (der Begriff stammt von Diedrich Diederichsen), die ihre nicht vorhandene oder mangelhaft entwickelte Gesangstechnik zu einem ganz eigenen Stilmittel machen und deren berühmteste Vertreter wohl Bob Dylan und Neil Young sind, beide veritable Knödler und doch unverwechselbar und ausdrucksstark.
Und manchmal geht es nicht nur im übertragenen Sinn um die Existenz.
Sängerinnen wie Billy Holiday und Bessie Smith, später Janis Joplin und in jüngerer Zeit vielleicht auch Amy Winehouse – sie alle haben mit ihrer Stimme vom Leid der Menschheit und den raren Momenten des Glücks erzählt. Nicht nur in den Texten ihrer Songs, sondern vor allem durch ihr Singen. In ihrer Stimme kommen Verletzungen und euphorische Momente zum Tragen, bricht sich jenes Existenzielle Bahn, das sie letztlich unsterblich machte. Dass viele dieser Künstlerinnen (es handelt sich überwiegend um Frauen) schon in frühen Jahren starben, verleiht der stimmlichen Performanz zusätzliche Street Credibility. Der frühe Tod wird zum ultimativen Beweis der Einheit von Leben und Werk. Zum Beweis dafür, dass sie sich entäußert hätten, sich, wie der volkstümliche Ausdruck lautet, »die Seele aus dem Leib« gesungen hätten.
In der Klassik gibt es nur wenige SängerInnen, die solchen Ruhm ernteten: Vor allen anderen natürlich Maria Callas, die wie ihre Kolleginnen aus Blues und Jazz und Rock keineswegs über eine im technischen Sinn makellose oder gar ›engelhaft schöne‹ Stimme verfügte, sondern, ganz im Gegenteil, aus ihren technischen Mängeln ein Mittel der psychologischen Tiefenerkundung machte und damit jenes Identifikationspotenzial schuf, das sie in weiten Kreisen zum Superstar machte. Heute, in einem durchkommerzialisierten, auf optische wie musikalische Perfektion versessenen Musikbetrieb hätte Maria Callas wohl keine Chance mehr.
Täuscht der Eindruck oder ist die Dominanz der Stimme in der Popmusik in jüngerer Vergangenheit etwas zurückgegangen? Techno hat vor zwei Jahrzehnten eine Renaissance der reinen Instrumentalmusik eingeleitet und kam in den ersten Jahren beinahe ganz ohne Vocals aus. Und auch Hiphop und Rap arbeiten zwar mit der Stimme, aber eben mit einer Sprechstimme, die mehr durch die rhetorische Aufladung ihre Kraft gewinnt denn durch sängerische Qualitäten. In den Clubs kommt man heute jedenfalls ganz gut ohne Sänger aus. Der Mainstream-Pop bleibt allerdings bis auf Weiteres eine Domäne der Sänger, wenn auch auf künstlerisch meist redundante Art. Vielleicht ist das auch eine unvermeidliche Konsequenz aus der Tatsache, dass jene Authentizität, die man Bessy Smith und Billy Holiday noch fraglos zuschrieb, heute verschwunden ist hinter den multiplen ›Personalities‹ einer Posing-Gesellschaft, die glaubt, sich selbst ständig neu erfinden zu müssen. Wo es diese ›Authentizität‹ nicht mehr gibt, wird die Stimme als das authentischste aller Kommunikationsmittel im kommerziellen Gebrauch obsolet.
Vielleicht liegt die Zukunft der Stimme ja in einem Phänomen wie der japanischen Sängerin Miku Hatsune. Einem virtuellen Popstar im Manga-Stil, entstanden aus visueller 3-D-Animation und dem elektronischen Stimmen-Programm Vocaloid, mit dem sich beliebige Melodien in bestimmten Stimmfarben erstellen lassen. Es gibt keine neutrale Stimme? Hier ist sie zu hören, und mit einer Backing Band aus realen Musikern gibt Hatsune sogar regelmäßig Konzerte – in gewissem Sinn die Umkehrung des Karaoke-Prinzips, das, wenn man es recht betrachtet, letztlich eine Hommage von Laiensängern an ihre großen Idole ist.
Mit einem künstlerisch-kreativen Umgang mit der Stimme hat das freilich (vorläufig) nichts zu tun. Aber auch im Bereich der E-Avantgarde liegt die Vermutung nahe, dass wir erst am Anfang einer Entwicklung stehen, in der die digitalen Möglichkeiten ganz neue Räume eröffnen und – Dialektik des Fortschritts – alte ›Errungenschaften‹, Fertigkeiten und Kenntnisse unter sich begraben. Der Körperlichkeit der Stimme ihren Raum zu lassen, ist ein Kerngedanke, der in Zeiten der vollständigen Auflösung des Körpers in digitalen Abstraktionen auch für die gegenwärtige Musik zumindest beachtenswert ist.
Rainer Pöllmann