2017 wurden in Deutschland mit einem umfassenden Veranstaltungsprogramm 500 Jahre Reformation feierlich gewürdigt. Man erinnerte damit an Martin Luthers Veröffentlichung der 95 Thesen Disputatio pro declaratione virtutis indulgentiarum (»Abhandlung zur Klärung der Kraft der Ablässe«). Auch anderswo, beispielsweise in Slowenien, wurde dieses Jubiläumsjahr der Reformation mit zahlreichen Projekten begangen. So gab es verschiedene Kooperationen zwischen slowenischen und deutschen Kulturinstitutionen. Das Goethe-Institut in Ljubljana bündelte seine Projekte unter dem Titel Luther/Trubar – Reformer und Rebellen. Hier wurde Martin Luther der slowenische Bibelübersetzer und Reformer Primož Trubar gegenübergestellt: Denn so wie Luther für das Deutsche als Schriftsprache prägend war, hat auch Trubar mit seiner Bibelübertragung einen entscheidenden Einfluss auf die slowenische Sprache ausgeübt. Den bedeutenden Aspekt des Linguistischen bei beiden Reformern griff in der Burg von Ljubljana die interaktive Ausstellung Aufs Maul geschaut. Mit Luther in die Welt der Wörter auf. In diesem Rahmen gab das Ensemble Experimental unter der Leitung seines Gründers Detlef Heusinger Ende Mai 2017 an drei Tagen Wandelkonzerte mit einem Programm, das Ideen der Ausstellung aufgriff: Slowenische und deutsche Komponist:innen haben sich in Werken mit berühmten Luther-Worten, die in der Ausstellung behandelt wurden, auseinandergesetzt.
Für diese Konzerte hat auch Detlef Heusinger damals ein neues Werk beigesteuert. Er hat sich für den Begriff »Kreuzweg« entschieden, die deutsche Übersetzung des lateinischen Via crucis. In der Bibel ist damit der Weg Jesu Christi zur Kreuzigung gemeint. Mit seinem englischen Werktitel 4 CROSSROADS weist Detlef Heusinger dagegen subtil auf die Ambivalenz des von Luther geprägten, deutschen Begriffs »Kreuzweg« hin. Denn »Kreuzweg« bezeichnet auch die Stelle, an der sich zwei Wege kreuzen, im Lateinischen Trivium bei drei Wegen oder Quadrivium bei vier Wegen. Auch die englische Sprache unterscheidet hier genauer als die deutsche: die Übersetzung von via crucis ist eng am lateinischen Original way of the cross, während die Wegkreuzung crossroads heißt. Detlef Heusinger interpretiert »Kreuzweg« für sein Stück – wie das klangliche Resultat auch zeigt – tatsächlich als sich kreuzende Wege unterschiedlicher Instrumente im Sinne einer Kreuzung. Zu diesem Zweck kommt in 4 CROSSROADS eine außergewöhnliche Besetzung zum Zuge, nämlich E-Gitarre, Theremin, Cello, Klavier, Synthesizer und Schlagzeug. Zum eingesetzten Schlagzeug gehört eine breite Palette unterschiedlicher Farbgeber: Vibraphon, Glockenspiel, Bouteillophone (Flaschenspiel), Becken, Plattenglocken, Waterphone (ein metallenes Instrument mit einem mit Wasser gefüllten Behälter, auf dem ringförmig Lamellen angebracht sind), Flexaton, Große Trommel, kleine Trommel, Hi-Hat, Kuhglocken, die auch mal ins Wasser eingetaucht werden, Nail Chimes (Röhrenglocken aus Nägeln), eine Metallspirale, Pauken, zudem metallene Röhrenglocken sowie die hölzernen Röhrenglocken Whisper Chimes und Wind Chimes. Das Klavier wird mit dem E-Gitarren-Effektgerät E-Bow präpariert, was dauerhafte Schwingungen und Rückkoppelungen an einer Klaviersaite erzeugen kann, zudem kommen auf den Klaviersaiten Kuhglocke, Gläser und eine Flasche zum Einsatz. Mit neuen Mitteln der Live-Elektronik werden selbst die Mikrostrukturen von Instrumentenklängen seziert, transformiert, amalgamiert und damit im Sinne einer crossroad »gekreuzt«. So kann mit Hilfe der Technik der convolution (»Faltung«) die E-Gitarre in ihren Ausklängen mit Resonanzen aus dem Klavierkorpus versehen werden, was zu einer Bereicherung in den Texturen führt.
Zusätzlich zum Reiz dieses breiten und überaus fein aufgefächerten Farbspektrums gehört zum Charme der Besetzung von 4 CROSSROADS, dass außer den akustischen Instrumenten und avancierter digitaler Live-Elektronik auch analoge Instrumente aus der Geschichte der elektroakustischen Klangerzeugung eingesetzt werden. Diese werden wiederum in einem Prozess neuester live-elektronischer Metamorphose im Ergebnis klanglich verwandelt: Neben der bereits erwähnten E-Gitarre , die ihre lange Geschichte aus der Jazz- Rock-, und Popmusik in den Klängen eingeschrieben hat, und dem Synthesizer mit seiner eigenen Geschichte in der Neuen Musik, in Rock- und Popmusik, ist dies vor allem das Theremin aus der Urzeit elektroakustischer Klangerzeugung, ein Instrument mit einer einzigartigen Farbgebung: Indirekt und präsent gleichzeitig, sirenenhaft, körperlos, durchdringend und doch sphärisch. Über zwei im rechten Winkel zueinander stehende Antennen werden – ohne sie zu berühren – Tonhöhe und Lautstärke beeinflusst. Die eigentümlich gleitenden Klänge des Theremins wurden im Laufe des 20. Jahrhunderts gerne für die Soundtracks beispielsweise von Science-Fiction-Filmen eingesetzt.
Diese faszinierende Zusammenstellung unterschiedlicher Instrumente, die ihre Ursprünge in verschiedenen Epochen der Musikgeschichte haben, bringt Detlef Heusinger in 4 CROSSROADS in diverse Zusammenhänge. In jedem dieser Abschnitte gibt es unterschiedliche Mischungen und Schwerpunkte in den Strukturen und Texturen. Stets ergeben sich dabei atmosphärische Klangkosmen, bei denen sich oft die Grenzen der einzelnen Instrumentalklänge im Zusammenspiel auflösen.
Das erste Stück der 4 CROSSROADS ist vielgestaltig, farbenreich, mit überraschenden Umschwüngen, im Klang körperreich mit rhythmusbetonten Passagen zwischendurch. Das Spektrum reicht hier von den Eindrücken einer Kirchenorgel, produziert vom Synthesizer, bis zu Anklängen an Psychedelic Rock der späten 1960er und frühen 1970er sowie an Space-Sounds, wie sie in Science-Fiction-Filmen der 1950er und 1960er Jahren eingesetzt wurden. Das zweite Stück steht dann im deutlichen Kontrast zum Vorherigen: Hier herrschen filigrane Klanggewebe, zurückhaltende Gesten und luftig schwebende Klänge vor, geprägt von Theremin-Klängen. Kurze charakteristische E-Gitarrenläufe und Cellofiguren sorgen für markante Zwischentöne. Eine besondere Komponente hat Detlef Heusinger seinen 4 CROSSROADS mit einer 2022 neu komponierten Elegie nach der zweiten CROSSROAD hinzugefügt: in der Besetzung Sopran und E-Gitarre. Mit der menschlichen Stimme, die auch an anderer Stelle neu auftaucht, kommt nun auch das älteste Instrument der Musikgeschichte zum Einsatz. In dieser Fassung kommen 4 CROSSROADS bei Ultraschall Berlin 2023 zur Uraufführung.
Das dritte CROSSROAD-Stück ist, wie schon das erste, erneut kleinteilig gehalten, bevor sich der Sog einer sich rhythmisch treibenden Bewegung durchsetzt. Einzelne bewegte Linien heben sich vom übrigen Klanghintergrund ab, kurze Figuren blitzen durch die Instrumentalstimmen. Im Gegensatz zu den beiden vorherigen Sätzen treten hier die Konturen der einzelnen Instrumente deutlicher hervor.
Im nachfolgenden Zwischenspiel kommt schließlich völlig Neues, nämlich Material aus vorproduzierten Klängen. Sie stammen von einer Hammond-Orgel und von einem Novachord, beides von Laurens Hammond erfunden. Entgegen der berühmten Hammond-Orgel, die bereits 1934 in den USA zum Patent angemeldet wurde, ist das Novachord weitgehend in Vergessenheit geraten: Das Novachord war der erste in Serie gebaute Synthesizer mit Klaviertastatur, es wurde zwischen 1938 und 1942 produziert und in Hollywood-Filmmusiken für Szenen, in denen es bedrohlich wurde, eingesetzt, etwa in Franz Waxmans Soundtrack für Alfred Hitchcocks Rebecca (1940) und Erich Wolfgang Korngolds Musik für Michael Curtiz‘ The Sea Wolf (1941). Die aus den weiterverarbeiteten Klängen von Hammond-Orgel und Novachord haben in 4 CROSSROADS mit ihren sich überlagernden Klangflächen eine Anmutung von Maschinensounds aus einem NASA-Kontrollraum der 1960er Jahre oder aus der Kommandozentrale eines Raumschiffs in einem Science-Fiction-Film jener Zeit.
Dieses Material aus dem Zwischenspiel wird im vierten Stück weiterverarbeitet. Hier gerät es zu arpeggierten Akkorden, in die sich das Cello mit expressiven Linien einbringt und schillernde, flirrende Schlagzeugklänge hinzutreten. Der Wiener Musikwissenschaftler Stefan Jena weist im Booklet der CD-Einspielung von 4 CROSSROADS, die während des Lockdowns 2021 mit dem Ensemble Expermental und Detlef Heusinger entstand, auf »verstörende Farben« hin, die direkt von einem Soundtrack eines David Lynch-Films stammen könnten – mit ihren düsteren melancholisch-bedrohlichen Melodien und Harmonien, die Filmkomponist Angelo Badalamenti einst für Lynch zauberte. Die verstörend klaustrophobisch wirkenden Klänge von Detlef Heusinger stehen dem in nichts nach. Sie kommen einem im Verlauf seiner Musik sehr nah, bedingt durch eine allmähliche Verdichtung der Strukturen und polyrhythmischen Schichten.
Die Zeitreisemaschine – so heißt eine Familienoper von Detlef Heusinger, die 2021 in Bregenz uraufgeführt wurde und Anfang 2022 in Detmold auf die Bühne kam. Solch eine »Zeitreisemaschine« ist letztendlich auch das Ensemblewerk 4 CROSSROADS. Hier hat der stets neugierige und experimentierfreudige Klangtüftler Detlef Heusinger mit großer Sensibilität akustische und elektronische Klangerzeuger aus verschiedenen Epochen und Traditionen mit großer Sensibilität zueinander in Beziehung gesetzt, multiperspektivisch und kaleidoskopartig.
Seit der Entwicklung des Halaphons im SWR Experimentalstudio in Freiburg Anfang der 1970er Jahre ist die zielgerichtete Bewegung von Klängen im Raum einer der Schwerpunkte der Einrichtung. Diese Technologie wurde in Freiburg im Laufe der Jahrzehnte bis heute immer weiter verfeinert und differenziert. So bewegen sich Klänge und einzelne Aspekte des Klangs ganz gezielt um das Publikum im Raum, sie hüllen das Publikum ein, umrunden es oder durchschneiden akustisch das Auditorium. Zur erweiterten Fassung von Detlef Heusingers 4 CROSSROADS, die bei Ultraschall Berlin 2023 uraufgeführt wird, gehört auch, dass die live-elektronisch ermöglichten Raumklangverhältnisse des Werks auf die spezifischen Gegebenheiten des Kleinen Sendesaals im Haus des Rundfunks präzise abgestimmt wurden.
Eckhard Weber