Claus-Steffen Mahnkopf – Komponist, Theoretiker, Publizist und ein durchaus debattenfreudiger Geist – verbindet kritisches Bewusstsein in der Tradition Theodor W. Adornos immer mit einem hohen Maß persönlicher Leidenschaft. Einem Komponisten wie Brian Ferneyhough begegnete er viele Jahre mit ausdrücklicher Verehrung, von ihm konstatierte Fehlentwicklungen kann er mit polemischer Schärfe geißeln.
Auch als Komponist hat sich Mahnkopf wiederholt ›positioniert‹. Lang ist die Reihe seiner ›Hommage‹-Werke, in denen er großen Gestalten nicht nur der Musikgeschichte, sondern auch der Philosophie oder der Architektur seine Reverenz erweist. Dazu gehören die Komponisten György Kurtág, Luigi Nono und Brian Ferneyhough, natürlich Theodor W. Adorno, der Schriftsteller Thomas Pynchon und nicht zuletzt der Architekt Daniel Libeskind, dem eine ganze Serie von ›Hommages‹ gewidmet ist.
Auch sein neues Werk für fünf Stimmen und Orchester ist eine solche Hommage. Und doch handelt es sich dabei um ein singuläres Werk. Gewidmet ist es dem Andenken seiner Frau, der jüdischen Religionsphilosophin Francesca Yardenit Albertini, die 2011 im Alter von 36 Jahren unter tragischen Umständen starb.
Mahnkopf hat der herausragenden Wissenschaftlerin 2013 in einem Buch ein Denkmal gesetzt (Deutschland oder Jerusalem. Das kurze Leben der Francesca Albertini). Es verknüpft die persönlichen Erinnerungen, die gemeinsame Lebensgeschichte, mit zahlreichen hochkomplexen religionsphilosophischen Fragen, die Albertini beschäftigten. Dieser Erinnerung in Buchform folgt nun, fünf Jahre später, die Erinnerung in einem musikalischen Werk.
»Auch fast acht Jahre nach ihrem Tod«, so schreibt Mahnkopf, »ist dieser emotional nicht zu akzeptieren. Man gewöhnt sich an den Tatbestand, aber letztlich ist der Tod einer geliebten Person unausdenklich und stellt eine unauflösliche Paradoxie der eigenen Existenz dar.«
Dov’è? überschreibt Mahnkopf dieses Erinnerungswerk – wobei eigentlich ein Fragezeichen zu ergänzen ist. »Dov’e? heißt: Wo ist er/sie/es?« Der Tod erzeugt eine Leerstelle, die nicht mehr gefüllt werden kann. Insofern ist dieses Werk – obwohl es kompositorisch ganz andere Wege geht – doch auch dem VOID-Zyklus verwandt, mit dem Mahnkopf an das architektonische Konzept Daniel Libeskinds anknüpft, wie es im Jüdischen Museum Berlin verwirklicht wurde.
Und doch: Kein Requiem sollte dieses neue Werk werden, sondern ein Porträt. »Francesca betätigte sich in jungen Jahren als Schriftstellerin und wurde sogar ins italienische Fernsehen eingeladen. Diese Episode währte kurz, aber ich fand in ihrem Nachlass zahlreiche Jugendgedichte, die sie zwischen 17 und 20 Jahren schrieb. Aus diesen wählte ich zehn aus. Sie umkreisen die Themen Wahrheit, Tod, Schmerz, Vergessenwerden, Michelangelo, Morgendämmerung, Entwurzelung, Briefe, Denken, Qual und Schatten.«
Diese Gedichte werden, so Mahnkopf, »in fünf Großstrophen gesungen, vom Orchester begleitet. Zugleich erhält fast jedes Instrument ein Solo, das im Tempo unabhängig vom Orchester spielt. Auch sind einige Zwischenspiele eingeschoben, die eine Narration ergeben, die unserem gemeinsamen 13jährigen Lebensweg folgt«.
Das zentrale Gedicht lautet:
Dove sono i morti?
Dentro di noi.
Un cadavere resuscita
ad ogni pensiero.
(Wo sind die Toten?
Drinnen in uns.
Ein Leichnam steht auf von den Toten
bei jedem Gedanken.)
Rainer Pöllmann