Der Titel heißt übersetzt so etwas wie ›Gedankensprünge‹ oder ›Erinnerungsschübe‹. Was hat es damit auf sich?
Der Kompositionsauftrag kam von KölnMusik zu Beethovens 250. Geburtstag im Jahr 2020. Es sollten Werke entstehen, die von Beethoven inspiriert sind, seine Musik aber nicht direkt zitieren. Meine Inspirationsquelle waren die Konversationshefte Beethovens. Mit diesen Notizbüchern kommunizierte Beethoven, als sein Hörvermögen schwächer wurde und er völlig ertaubte. Seine Mitmenschen schrieben Fragen auf, die er mündlich beantwortete. Das heißt, uns sind darin zwar die Fragen überliefert, aber nicht seine Antworten. Manchmal hat er aber auch selbst eigene Gedanken notiert. Die Aufgabe war nun, Fragen in diesem Heft zu beantworten – als Clara Iannotta, als ich selbst, die versucht, Beethoven zu sein…
Du hast einen bestimmten Satz gewählt, auf den du dich beziehst.
Beim Lesen der Hefte stieß ich auf diesen einen Absatz, der für mich die ganze Idee dieses Jubiläums beinhaltet und für mich persönlich noch viel mehr: »Der Ton bleibt zu viel Rückwärts / Lassen Sie mir nur etwas Zeit, ich will schon noch Versuche machen.« In diesem Satz aus dem Konversationsheft steckt für mich zum einen die Erinnerung der Vergangenheit, das Vermächtnis Beethovens, zum anderen aber auch die Erinnerung von Klängen. – Da muss ich kurz ausholen: Wissenschaftler vermuten, dass Beethoven an Otosklerose litt, einer Krankheit, bei der das Innenohr zerstört wird und die zu Hörverlust und Taubheit führt. Ich selbst habe diese Krankheit, ich habe einen Tinnitus und mein Hören verändert sich. Ich höre Klänge, die ich nicht mehr zusammenbringen kann mit meiner Erinnerung an Klänge – das ist frustrierend. Es gibt da einen Bruch zwischen Gehörtem und Erinnertem. Der ständige Vergleich zwischen dem, was du hörst, und dem klanglichen Gedächtnis in deinem Kopf, zwischen dem, was außerhalb von dir ist, und dem, was in dir ist… Es war sehr spannend für mich, an dieser Idee zu arbeiten.
Mit welchen klanglichen Erinnerungen arbeitest du in deinem Stück?
Da ich Beethovens Musik nicht zitieren sollte, habe ich eines meiner Streichquartette als Erinnerungsmaterial genommen – das repräsentiert mich selbst, es ist mir vertraut und es ist schon in der Welt. Das Ensemble ist in drei Gruppen unterteilt, von denen die Hauptgruppe mein Streichquartett spielt, mit Hilfe der anderen Musiker:innen beeinflusse ich diese Musik durch Verzerrungen, Filter, Betonungen oder durch komplett neue Erinnerungen. Die Musik spiegelt also quasi die Frustration meiner persönlichen Klangerfahrung – hoffentlich ist es trotzdem schön anzuhören (lacht).
Beschränkt dich die Krankheit? Wie gehst du damit um?
Die Medizin entwickelt sich immer weiter und kann mittlerweile vieles dagegen tun. Ich werde regelmäßig durchgecheckt, und so lange es keine großen Verschlechterungen gibt, brauche ich keine Operation. Ich habe einen Tinnitus, der sich ständig verändert – das nervt! Stille gibt es für mich nicht mehr, so verändert sich auch das Konzept von Stille in meinen Kompositionen. Natürlich war die Diagnose schockierend, die Krankheit hat aber auch interessante Aspekte: Mein Gehirn scheint einigermaßen kreativ zu sein. Man könnte sogar sagen, ich erlebe noch mehr Klang!
Zusammen mit dem Ensemble wirst du deine Komposition im Digitalen weiterentwickeln. Kannst du schon etwas darüber erzählen?
Das ganze Projekt hat ja mit dem individuellen Hören zu tun – was ich höre, was du hörst, was man im Inneren und im Äußeren hört. Das möchten wir auf das Publikum übertragen. Eine digitale Version basiert dann nicht auf einer fest komponierten Konzertversion, sondern soll jedem Zuhörenden erlauben, das Stück anders zu erleben, selbst zu entscheiden, wie bestimmte Klangaspekte herausfiltert werden und so ganz unterschiedliche Erfahrungen möglich machen.
Auszüge aus einem Gespräch, das Ruth Warnke vom Ensemble Resonanz mit Clara Iannota geführt hat. Erstveröffentlichung im Programmheft der Uraufführung am 2. November 2021.