Clara, Du hast in einem Zeitraum von etwa sechs Jahren vier Streichquartette geschrieben, eines davon ganz frisch für Ultraschall Berlin. Wenn man bedenkt, dass das Streichquartett als sogenannte Königsdisziplin der Kammermusik vielen jungen Komponisten eher Angst als Mut macht, wirkt es doch erstaunlich, dass Du dich dieser Gattung so beherzt hingibst. Wie ist Dein Verhältnis zum Streichquartett?
Streichinstrumente waren schon immer meine Lieblingsinstrumente – und das, obwohl ich selbst gar keine Streicherin bin. Es gefällt mir einfach, wie man mit dem Bogen einen Klang kontinuierlich verwandeln kann. Ein Ton ist hier nichts Fixes, Unveränderbares, wie es etwa beim Anschlagen einer Klaviertaste der Fall ist. Sondern ein Ton kann in sich selbst dynamisch sein, in einem Bogenstrich kann eine ganze Welt von verschiedenen Klangnuancen stecken. Du kannst Dich entscheiden, wie lang ein Ton dauern soll und innerhalb dieser Zeitspanne kannst Du alles mit dem Ton anstellen, was Du willst. Insofern hatte ich auch keine Berührungsängste mit der Gattung, als ich 2013 mit meinem ersten Streichquartett begann. Im Gegenteil: Ich hatte das dringende Bedürfnis, mich endlich damit auseinanderzusetzen.
Diese Fülle an klanglichen Möglichkeiten bedeutet natürlich auch die Schwierigkeit, sich für ein bestimmtes Material entscheiden zu müssen.
Ja, das stimmt. Aber das sehe ich gar nicht als Problem. Für mich ist die Herausforderung eher die, dass ich mich frage: Wie kann ich meine eigene unverwechselbare Sprache mit einem Streichquartett umsetzen? Wie schaffe ich es, dass das Publikum nach einem Konzert mit Stücken verschiedener Urheber nicht denkt: »Welches war nochmal das von Clara Iannotta?« Oder anders gesagt, wie kann ich etwas für Streichquartett komponieren, das wirklich nach mir klingt?
Da dürfte Dir diese Gattung aber nicht wirklich entgegenkommen. Denn im Werkkommentar zu Deinem ersten Streichquartett A Failed Entertainment (2013) schreibst Du, dass Du es normalerweise gewohnt bist, für einen Apparat verschiedener Instrumententypen zu schreiben, da Du ihre Klänge gerne zu einem Mischklang zusammenschmelzest. Hier aber habest Du es als Schwierigkeit empfunden, mit vier Instrumenten zu arbeiten, die die gleichen Klangqualitäten aufweisen. Wie bist Du mit dieser Problematik umgegangen?
Das war tatsächlich eine Herausforderung. Denn bis dahin hatte ich das kompositorische Konzept verfolgt, dass jedes meiner Stücke aus nur einem einzigen Klang besteht; und aus der Erforschung der Tiefe dieses Klangs. Es gibt also keine Entwicklung von A nach B, keine Kombination verschiedener Klänge, Themen oder Figuren. Sondern meine Stücke entwickeln sich eher von A nach A’. Es geht um einen Klang und ich navigiere gewissermaßen durch diesen Klang hindurch, beleuchte alle möglichen Facetten des Klangs und tauche immer tiefer in ihn hinein.
Wenn ich von einem Klang spreche, meine ich übrigens etwas sehr Komplexes mit vielen Schichten. Und dafür brauche ich natürlich Instrumente. Viele Instrumente. Das ist auch der Grund, weshalb ich so gut wie nie Solostücke schreibe, sondern ausschließlich Ensemblemusik.
Als ich mit der Arbeit an A Failed Entertainment begann, wusste ich erst einmal nicht, wie ich meine gewohnte Vorstellung vom Komponieren mit nur vier Streichern realisieren sollte. Da wurde mir klar, dass ich mich den Instrumenten hier auf eine vollkommen neue Weise nähern musste: Ich habe versucht, alle vier Streicherstimmen als unterschiedliche Individuen mit jeweils exklusiven Eigenschaften zu behandeln, anstatt sie als homogenen Klangkörper zu begreifen.
In Deinem zweiten Streichquartett dead wasps in the jam-jar (III) (2017–18) hast Du Dich dann an einer konkreten Vorlage abgearbeitet: Johann Sebastian Bachs Partita Nr. 1 h-Moll für Violine solo. Wie kam es dazu?
Zunächst ist es wichtig zu wissen, dass das Stück der dritte Teil eines Zyklus ist. Das erste Stück ist für Violine solo, das zweite für Streichorchester und das dritte für Streichquartett. 2014 bat die Geigerin Yuki Numata Resnick vier Komponisten, Stücke auf Basis der h-Moll-Partita von Bach zu schreiben. Jeder von uns sollte einen der Sätze und sein Double bearbeiten. Und da ich als letzte auf die E-Mail mit der Anfrage geantwortet hatte, blieb mir nur die Corrente – der schwierigste der Sätze, wie ich finde. Außerdem arbeite ich ohnehin ungern mit vorgegebenem Material, Zitattechniken oder dergleichen. Aber in diesem Fall akzeptierte ich die Ausgangssituation, weil ich 2014 in einer großen künstlerischen Krise steckte. Fast ein Jahr lang brachte ich keine Note zu Papier. Und da schien es mir ein umso produktiverer Ausweg zu sein, mich auf eine Weise mit Musik zu beschäftigen, die mir bis dato eher fremd gewesen war.
Daraufhin nahm ich mir also die Corrente und ihr Double vor. Ich stellte fest, dass die Musik vor allem aus Sprunggesten besteht. Und im Double gibt es dann lauter Töne, die – fast wie Glissandi – die Räume zwischen den Sprüngen füllen. All diese Bewegungen, ihre Proportionen, ihre Gewichtungen analysierte ich und überlegte mir daraufhin, wie ich die beiden Hauptmerkmale der Musik – also die Sprünge und die Glissandi – in ein und denselben Klang fassen könnte. Ich habe eine Weile experimentiert und kam auf eine Idee, die ich sowohl in dem Stück für Violine solo als auch im Streichquartett umsetzte: Die Instrumente sind an Griffbrett und Steg mit Büroklammern präpariert. Damit ist die Länge der Saiten extrem reduziert, auf vielleicht 10 Zentimeter. Der Bogen wird genau dazwischen geführt. Und wenn die Streicher dann mit ihrer linken Hand ausschließlich Flageolett-Glissandi spielen, passiert etwas Faszinierendes: Das klangliche Ergebnis ist eine Folge von kontinuierlichen Sprüngen, eingebettet in eine Hülle aus sonderbaren Glissandi. Auf diese Weise hatte ich eine passende Umsetzung der für mich markanten Klangqualitäten aus der Bachschen Corrente gefunden.
Ist die Vorlage von Bach in Deinem Streichquartett dann überhaupt in irgendeiner Weise hörbar?
Nein, kein bisschen. Sie war wirklich nur eine Inspiration für mich, wie ich kreativ mit dem Material arbeiten könnte – die Genese einer klanglichen Idee gewissermaßen. Aber die Vorlage ist so stark von mir ›gefiltert‹ und auch in der Zeit gedehnt, dass sie nicht mehr zu erkennen ist. Und auch Form und Konzept des Stückes orientieren sich in keiner Weise an Bachs Partita.
Da ging es mir um etwas anderes: Ich beschäftigte mich zu dieser Zeit intensiv mit Literatur zur Erforschung des Meeresgrundes und fand in diesem Themenkomplex eine wunderbare Metapher für mein musikalisches Arbeiten. Während ich in meiner künstlerischen Krise steckte und mich fragte, nach was ich eigentlich suche, half mir das Bild des Ozeans: eines Kosmos, unter dessen Oberfläche sich eine enorme Tiefe verbirgt – das sogenannte ›deep blue‹. Und ich war ja ohnehin auf der Suche nach Sinn und Substanz, die irgendwo tief versteckt sein könnten.
Also widmete ich mich diesem Thema mit vollem Eifer. Ich lernte viel über den Ozean, etwa, dass es auf dem Meeresgrund kein natürliches Licht gibt. Und trotzdem ist es dort unten – das ist das eigentliche Faszinosum – nicht dunkel. Denn die vielen Fische in diesen Regionen entwickeln spezielle Enzyme, durch die sie selbst leuchten können. Sie sind gewissermaßen ›Lichtlieferanten‹. Insofern gibt es dort unten auch eine ganze Menge Leben; trotz des enormen Drucks durch die Wassermassen. Dieses vielschichtige und durchaus widersprüchliche Bild gefiel mir sehr und befruchtete mein Denken über Komposition.
Und inwiefern ist dieses Bild dann in die Arbeit an dem Quartett dead wasps in the jam-jar (III) eingeflossen?
Zunächst einmal wollte ich diesen enormen Druck in irgendeiner Weise auf die Musik übertragen. Der Druck ergibt sich für die Instrumentalisten automatisch, da sie den Bogen nur innerhalb des kleinen Abschnittes zwischen den Büroklammern bewegen können. Gleichzeitig versuche ich aber, innerhalb dieses Bereichs unzählig viele verschiedene Klänge zu finden. Meine ›Lichtlieferanten‹ generiere ich, indem ich einzelne Sinustöne zuspielen lasse, die sich unmittelbar aus den harmonischen Spektren der live gespielten Streicherklänge ableiten. Außerdem gibt es subtil zugespielte Pulse, die sich als rhythmische Figurationen zu den Sinustönen mischen. Auf diese Weise werden die Sinustöne lebendiger in ihrer Klanglichkeit. Man könnte auch sagen: Ich fake damit Leben und Licht.
Dein drittes Streichquartett ist 2019 – also nicht sehr viel später – entstanden und heißt Earthing – dead wasps (obituary). Ist der Titel nur zufällig verwandt mit dem des zweiten Quartetts oder gibt es da eine unmittelbare Beziehung?
Es gibt eine Beziehung. Ich hatte die ganze Zeit den Eindruck, dass dead wasps in the jam-jar (III) zu kurz ist und wollte deshalb mit dem Material weiterarbeiten. Zur gleichen Zeit war ich auch mit der Komposition meines Orchesterstückes Moult beschäftigt. Wie der Titel – zu Deutsch: Mauser – schon impliziert, liegt der Musik hier das Bild eines Lebewesens zugrunde, das sich häutet, so wie etwa Spinnen ihren Chitinpanzer abwerfen können. Mir gefiel dieses Bild in Bezug auf mein Denken über Form und Zeit. Denn ich hatte mir die Frage gestellt, wie ich eine Komposition mit multiplen Zeitlichkeiten verwirklichen könnte; verschiedene klangliche Schichten, die verschiedene Geschwindigkeiten und verschiedene Größendimensionen haben.
Die Spinne etwa lässt ihren Panzer als leere Hülle zurück, wenn sie im Wachstum ist. Und plötzlich liegen dort zwei Körper – ein leerer und ein gefüllter – und damit zwei verschiedene Zeitlichkeiten. Dieses gedankliche Konzept übertrug ich dann auf mein neues Streichquartett. Ich nahm mir dafür mein zweites Quartett vor und zergliederte es in mehrere Abschnitte, die ich analysierte und zum Teil extrem ausdehnte. Diese einzelnen Teile mit ihren neuen, sehr unterschiedlichen Tempi schichtete ich übereinander. Das klangliche Ergebnis begeisterte mich. Es war wie eine multiple Version von dead wasps in the jam-jar (III) – gewissermaßen ein Stück im Stück im Stück. Man könnte sagen, ich habe ein Streichquartett komponiert, das sich während seines Erklingens mehrfach häutet.
Für das JACK Quartet hast Du ein viertes Streichquartett komponiert. Führst Du auch hier eine Idee aus einem vorherigen Stück fort bzw. arbeitest mit einem bestimmten Material weiter?
Ja, tatsächlich greife ich auch hier auf vorherige Gedanken zurück – nämlich auf das Bild des Meeresgrundes. Von diesem wissenschaftlichen Feld bin ich wirklich besessen. Und ich habe das Gefühl, dass meine persönliche Forschung an dieser Stelle noch längst nicht beendet ist. Der Titel meines vierten Streichquartetts ist passenderweise You crawl over seas of granite. Das ist eine Zeile aus dem Gedicht Going your own way von der irischen Lyrikerin Dorothy Molloy. Aus ihren Texten speisen sich übrigens mehrere meiner Stücktitel. In dem Gedicht, das mir den Titel zu meinem neuen Quartett liefert, geht es um Selbstmord – das zumindest ist meine Lesart der letzten Zeilen »You lean on waves of cold comfort before going down«. Und für die Komposition des Stückes stellte ich mir vor, wie etwas aussieht und sich bewegt, wenn es tief ins Wasser gleitet. Stoff beispielsweise. Die Bewegungen sind sanft und wunderschön. Gleichzeitig zerfällt der Stoff beinahe wegen des hohen Wasserdrucks.
Wie hast Du das musikalisch umgesetzt?
Alle vier Instrumente sind präpariert und teilweise mehr als eine Oktave nach unten gestimmt. Bei einer so extremen Skordatur verlieren die Saiten ihre Spannung und die Musiker sind nicht mehr in der Lage, die Tonhöhen exakt zu kontrollieren. Alles beginnt unscharf zu werden, die Töne verschwimmen und zerfallen ins Geräuschhafte. Aber genau diese Verschwommenheit wollte ich erzielen, um darin wiederum nach so vielen Klangnuancen wie möglich zu suchen. Außerdem gibt es Elektronik, die das akustische Setting zusätzlich anreichert.
Bei dieser Art der Suche nach dem Verschwommenen, dem Undefinierbaren gibst Du zwangsläufig Kontrolle ab. Du kannst das akustische Resultat nicht mehr exakt vorhersehen. Ist das leicht oder schwer für Dich auszuhalten?
Es ist paradox, denn eigentlich bin ich ein absoluter Kontrollfreak. Ich mag Perfektion und möchte am liebsten immer alles genau festlegen. In diesem Fall aber arbeite ich absichtlich gegen mich: Ich kann den Spielern zwar die klangliche Richtung bzw. die Gesamtfarbe vorschreiben, aber letztlich nicht kontrollieren, welche Farbabstufung zu hören ist. Und das bringt mich in eine Lage, die sowohl bequem als auch unbequem ist. Denn erst das Gefühl eines konstanten Unbehagens erlaubt es mir, überhaupt Musik zu schreiben. Ich brauche diese Spannung als Motivation. Es ist eine Arbeit, die mich häufig quält und schmerzt. Aber genau das liebe ich auch am Komponieren.
Das Gespräch führte Leonie Reineke.