Erst im September 2019 war er wieder in Berlin, um als Dozent im Rahmen von KlangKunstBühne/Internationale Sommerakademie der Universität der Künste zusammen mit der Schlagzeugerin Robyn Schulkowsky einen Workshop zu leiten. In diesem Jahr wird er mit einer Uraufführung bei der Münchener Biennale/Festival für Neues Musiktheater vertreten sein:
Christian Wolff, mittlerweile 85 Jahre alt, bildete zusammen mit den befreundeten Komponisten John Cage, Morton Feldman, David Tudor, Earle Brown und Frederic Rzewski die legendäre New York School. Mit ihren experimentellen Werken brachten sie in die Nachkriegsmoderne eigenständige Positionen und Impulse, die sich deutlich von ihren europäischen Kollegen unterschieden.
In der seit 1973 als Work in Progress entstandenen Werkreihe Exercises stellt Christian Wolff in verschiedenen kammermusikalischen Besetzungen die Frage nach der Autorschaft eines Kunstwerks und nach der Freiheit der ausführenden Musiker immer wieder neu. Dies durchaus mit politischem Anspruch: Im Sinne einer »parlamentarischen Partizipation«, wie er es nennt, lässt er den Instrumentalisten größere kreative Entscheidungs- und Gestaltungsfreiheiten als in traditionell gefassten Partituren. Da er selbst als Performer und Improvisator oft in Erscheinung getreten ist und bei Einspielungen der Exercises auch als Pianist und teils am Schlagzeug mitgewirkt hat, ist in die Werkreihe viel praktische Erfahrung und das Wissen um die Gestaltungsmöglichkeiten geflossen. Die Freiheit der einzelnen Musiker geht dabei weit über die individuelle Interpretation von Dynamik, Artikulation oder Tonfärbung hinaus. Dies ist auch bei den im Rahmen von Ultraschall Berlin uraufgeführten Excercises 37 und 38 so. Zur Besetzung heißt es in der Partitur: »Zwei oder mehr Spieler, alle denkbaren Instrumente«. Alle Interpreten verfügen praktisch über dasselbe Material, es gibt weder Vorgaben für Notenschlüssel noch Taktstriche, die Partitur hebt kein Instrument als so etwas wie die »führende Stimme«, die »Begleitung« oder die »kommentierende Funktion« hervor. Die einzelnen Aufführenden können frei entscheiden, was sie vom angebotenen Notenmaterial spielen und wie sie unter sich diese Musik im Zusammenspiel aufteilen. Mitunter gibt es spezifische Passagen, die als Anregung besonders für Schlaginstrumente geeignet vorgeschlagen werden: »Notenfolgen ohne Vorzeichen (z.B. zu Beginn von Exercise 38) können als für das Schlagzeug geschrieben aufgefasst werden.« Das heißt jedoch nicht, dass die übrigen Instrumente diese Stellen nicht spielen dürften bei dieser Musik, der gerade durch ihre Freiheit eine tiefe Wahrhaftigkeit innewohnt. »Man könnte sagen, diese Musik ist surrealistsch – sie reproduziert keine bekannten Formen, und enthüllt stattdessen die hinter dieser Musik liegende Unvorhersehbarkeit des Lebens«, hat Frederic Rzweski die Exercises-Werkgruppe einmal charakterisiert.
Eckhard Weber