Charlotte Seither: Recherche sur le fond

für Orchester (2010/11)

Charlotte Seither, weltweit aufgeführte und vielfach ausgezeichnete Komponistin mit Wohnsitz in Berlin und zudem promovierte Musikwissenschaftlerin, geht den Dingen konsequent und dabei äußerst sensibel auf den Grund. Sie hat über ihr Komponieren 2011 in einem Essay ausgeführt: »Wir müssen die Dinge zerlegen, um sie in ihrer Autonomie begreifen zu können. (…) Komponieren heißt also zuallererst: zerstören. Wir müssen eine tabula rasa schaffen, auf der alte Anhaftungen aufgegeben werden, um einen Boden für neue Sinnzusammenhänge zu eröffnen.« Ihr musikalisches Denken bringt Charlotte Seither in dem genannten Essay auf die Formel: »Aufspalten heißt: verstehen. Zerstören, um zu erkennen.« Dies erscheint in Worten kühl-analytischer als es im klingenden Resultat ist, denn die Komponistin interessiert sich für die vorsprachliche und damit die intuitive, sinnliche, emotionale Wahrnehmung – das, was vor unserem von der Logik diktierten Denken steht.

Im zeitlichen Umfeld des genannten Essays entstand Charlotte Seithers Orchesterstück mit dem französischen Titel Recherche sur le fond, »Suche auf dem Grund«, für die Komponistin ein »Blick auf den Tiefengrund«, wie sie es einmal formulierte, »nach innen und zugleich nach unten, auf den letzten Grund«. Zunächst wird die Suche behandelt: Vielfältige einzelne Klanggestalten werden ausprobiert, das Orchester zunächst eingesetzt als Zusammenballung von Solisten – in all ihrer heterogenen Mannigfaltigkeit und unter Einsatz sämtlicher Möglichkeiten heutiger Spieltechniken als überaus differenzierte Erkundung der Bereiche zwischen Ton und Geräusch. So produzieren etwa Klarinetten und Posaunen Glissandi mit körnigen Anteilen, Streicher erklingen vielfach solistisch aufgeteilt sirrend in hohen Registern, im »unbestimmten Raum«, wie Charlotte Seither es nennt. Diesem Panorama fügen drei Schlagzeuger überraschende Farben ein, etwa jene einer Standsirene, einer Vogellockpfeife oder eines schnarrenden Vibraslap, mit rasselnden Metallstiften in einem vibrierenden Kästchen.

Diese Vielzahl unterschiedlicher klanglicher Nuancen führen schließlich auf den von der Komponistin beschworenen »tieferen Grund«: »Ein lang ausschwingendes Tableau, auf dem die Zeit dann wie im Akte der inneren Betrachtung fast still zu stehen scheint,« so Charlotte Seither. Das Publikum ist eingeladen, diese Suche in die Tiefe und damit ins faszinierende »Innere« der Klänge hörend mitzuvollziehen. Eine Entwicklung »vom Detail und seiner individualisierten Gestaltform, hin zur Übergeordnetheit der Zeit als Ganzes und dem Tableau der eigenen Imagination.« Charlotte Seithers Orchesterstück Recherche sur le fond entstand als Auftragswerk für das Festival Ensemblia in Mönchengladbach, wo es 2011 von den Niederrheinischen Sinfonikern unter der Leitung von Graham Jackson uraufgeführt wurde. Im Jahr darauf wurde die in Landau in der Pfalz geborene Komponistin speziell für dieses Werk mit dem »Pfalzpreis für Musik« ausgezeichnet – für ihr Ansätze, »in eine umfassendere Wahrnehmung von Form und Zeit einzutauchen«, wie es in der Begründung hieß.

Eckhard Weber