Die 1982 in Oxford geborene, heute in Berlin lebende Komponistin Charlotte Bray, hat im vergangenen Jahr ein Orchesterwerk für die vom WDR initiierte Werkreihe „Miniaturen der Zeit“ beigesteuert. In einem Interview mit dem WDR hat sie ihre Herangehensweise an eine neue Komposition dargelegt: Sobald sie sich klar über Besetzung, Länge und die thematische Ausrichtung eines Stücks sei, versuche sie nach einer kurzen Phase des Brainstormings bald am Klavier das harmonische Aroma eines Stücks zu finden. Um die Stimmung und die musikalische Sprache ihrer Musik konkreter zu bestimmen, arbeitet sie auch gerne mit Farbstiften, oder sie macht sich Notizen. Die beiden kurzen Stücke That Crazed Smile (2015) und Those Secret Eyes(2014) von Charlotte Bray sind jeweils von Shakespeare-Dramen inspiriert worden und setzen den Anfang zu einer forlaufenden Werkreihe für Klaviertrio, die auf Texte von William Shakespeare Bezug nehmen. Die Komponistin versteht die beiden bislang vorliegenden Werke als Nachtstücke – mit jeweils unterschiedlichen Ausrichtungen.
That Crazed Smile für Klaviertrio nimmt Bezug auf Ein Sommernachtstraum und wurde 2015 in Landshut von einem Ensemble uraufgeführt, das den Namen des Elfenkönigs aus dem Shakespeare-Stück trägt, vom Oberon Trio. Der Werktitel That Crazed Smile ist abgeleitet von einer Formulierung aus der ersten Szene des ersten Akts aus Ein Sommernachtstraum. Sie bezieht sich auf die einzige Wortmeldung des Demetrius in dieser Szene. Demetrius ist der Heiratskandidat, den Hermias Vater Egius für sie bestimmt hat. Hermia lehnt Demetrius jedoch ab, weil sie in Lysander verliebt ist. Diese Verwicklung ist einer der Ausgangspunkte für die weiteren amourösen Verstrickungen der Menschen, in die bald die Geisterwelt eingreift. Demetrius wendet sich mit einem Appell an Hermia und Lysander: „Relent, sweet Hermia; and, Lysander, yield / Thy crazèd title to my certain right.“ In der deutschen Übersetzung von Wilhelm August von Schlegel, heißt es: „Demetrius: Gebt, Holde, nach; gib gegen meine Rechte / Lysander, deinen kahlen Anspruch auf.“ Dieser „kahle Anspruch“ (im englischen Original verbirgt sich in crazèd auch die Konnotation „verrückt“) steht für die unerlaubte Liebe, letztlich für die Devianz vom gesellschaftlich Akzeptierten. Gerade diese unerlaubten Triebe sind in Ein Sommernachtstraum die Antriebskraft für das dramatische Geschehen. Insofern wäre That Crazed Smile das unerlaubte Lachen im Sinne dieser Devianz. Es kann als Affirmation der Devianz in Shakespeares Komödie verstanden werden.
Charlotte Bray nennt That Crazed Smile „ein Fantasiestück, eingebettet in einer traumartigen Welt“. In einem Werkommentar der Komponistin heißt es: „Angesiedelt in der Nacht bei Mondschein, bewegt sich das Stück durch eine träumerische Passage, bis zu einem zugespitzten verzauberteren Teil, wenn die Elfen die Liebenden listig in ihren Träumen mit einem Zauber belegen.“ Zur Musik führt sie aus: „In einer dichten Sttuktur werden in der Kompoisiton fortlaufend kleine Motive und Melodien variiert, die um sich selbst drehen. Die Torheiten und die Selbsttäuschungen der Liebenden sind fühlbar.“
That Crazed Smile beginnt als filigranes Gewebe, das sich allmählich aus den Einsätzen der drei Ensembleinstrumente zusammensetzt. Bemerkenswert sind bald langgezogene, mit Blick auf die Handlung von Ein Sommernachtstraum womöglich als sehnsüchtige Gesten zu deutende Melodielinien, vor allem in der Geige. Nach einem gedrängten Mittelteil tritt spürbar eine Beruhigung und Entspannung des Geschehens ein. Die Momente heftiger Konflikte und Missverständnisse, aber auch die Auflösungen der dramatischen Knoten zwischen den Liebespaaren in Ein Sommernachtstraum stellen sich bei dieser Musik als Szenen vor dem geistigen Auge ein.
Das 2014 komponierte Klaviertrio Those Secret Eyes, das von The Albany Trio im Februar 2014 in Alberta/Kanada uraufgeführt wurde, bezieht sich auf das Shakespeare-Drama Macbeth. Der Titel von Those Secret Eyes ist ebenfalls eine freie Ableitung einer Textstelle bei Shakespeare: Sie ist in der vierten Szene des dritten Aktes zu finden, wenn Macbeth bei einem Bankett der Geist von Banquo erscheint. Diesen hat er zuvor ermorden lassen, nun sieht Macbeth ihn als Geist an dem Platz an der Tafel, der für ihn vorgesehen ist. Macbeth wirkt zunehmend verwirrt, sodass Lady Macbeth bald die Feier auflöst, um keinen Argwohn bei den Festgästen zu wecken. In Shakespeares Orginal wendet sich Macbeth an einer Stelle mit folgenden Worten an Banquo: “Avaunt! and quit my sight! Let the earth hide thee! / Thy bones are marrowless, thy blood is cold; / Thou hast no speculation in those eyes / Which thou dost glare with!“ In der deutschen Shakespeare-Übersetzung von Dorothea Tieck heißt es: „Hinweg! – Aus meinen Augen! – Laß die Erde dich verbergen! / Marklos ist dein Gebein, dein Blut ist kalt; / Du hast kein Anschaun mehr in diesen Augen, / Mit denen du so stierst.“ Für den Werktitel ihres Klaviertrios macht Charlotte Brey die toten Augen zu Secret Eyes: Es sind „geheime Augen“, denn nur der von Schuldgefühlen bedrängte Macbeth sieht sie als Geistererscheinung.
Die Komponistin hat in einem Werkkommentar erklärt, wie in der Tragödie von Shakespeare gehe es auch in Those Secret Eyes um Schein und Sein, Ehrgeiz und Schuldhaftigkeit. Das Ganze sei von einer „grausamen, trockenen Energie“ angetrieben. Die Hinweise, die Charlotte Bray zu ihrem Stück gegeben hat, setzen die Musik vor allem in Bezug mit den drei verschwörerischen Hexen aus Macbeth. Deren Prophezeihungen wecken zu Beginn von Shakespeares Drama die Machtgier von Macbeth und setzen das blutige Räderwerk in der Tragödie in Gang. Charlotte Brey schreibt zu ihrer Musik: „Der hinterhältige, dicht aufgespulte Beginn, wenn die Streicher mit Akzenten des Klaviers einzelne Melodielinien sul ponticello („auf dem Steg“) spielen, wirkt, als ob sie ein Komplott schmieden und sich gegenseitig herausfordern würden. Das Geschehen verdichtet sich, wenn die Musik schneller im Tempo wird, aufgeregter und wuchtiger. Doch selbst die Melodielinien vor dem Höhepunkt wirken beunruhigend kalt und kalkuliert. Das Ganze endet mit ähnlichem Material, wie es schon am Anfang zu hören war, so als ob dieses kurze Treffen zu seinem Schluss kommt und die verborgenen Ziele festgelegt sind.“
Deutlich vernehmbar entfesseln zu Beginn dieses Stücks gehämmerte Akzente des Klaviers die kantigen Melodielinien der beiden Streicher. Wenn sich das Geschehen allmählich intensiviert, werden die Einsätze brüsker und auch zerrissener, aber der kantige Charakter, „beunruhigend kalt und kalkuliert“ in Brays Worten, bleibt. Während des gesamten Stücks erweist sich das Klavier als rhythmisch treibender Motor, mit dem die beiden Streicher durchgehend eine Symbiose eingehen.
Eckhard Weber