Carola Bauckholt ist als Komponistin vom Instrumentalen Theater Mauricio Kagels geprägt, bei dem sie in Köln studiert hat. Sie hatte schon seit Beginn ihrer Karriere ein ambivalentes Verhältnis zu den klassischen Orchesterinstrumenten. In ihren Frühwerken hat sie Alltagsgegenstände prominent eingesetzt, etwa in Like a Rolling Stone (1978/79) für »Objekte auf der schiefen Bahn« oder in con espressione (1982/83) mit einzelnen Sätzen für »zehn Lichter, acht Objekte und ein Glas«, »Trompete und fünf Geräuschemacher« und »zwei Violas und fünf Raucher«. Später wandte sich Carola Bauckholt verstärkt auch den Instrumenten zu, schrieb Werke für konventionelle Besetzungen. Doch die Hörwahrnehmung für Alltagsklänge war geschärft, die Faszination dafür geweckt – und das ist bis heute so geblieben. Die Komponistin geht mit gespitzten Ohren, einem wachen Geist und einer äußerst sensiblen Wahrnehmung für auditive Reize der Umwelt durch die Welt, seien es Objekte oder Lebewesen. Die Geräusche aus dem Alltag oder der Natur stehen bei ihr gleichberechtigt neben Tönen, die aus einem Instrument kommen. In ihren Werken stellt Carola Bauckholt bis heute Reflexionen über ihre Wahrnehmung aus der weiten akustischen Welt an. In einem Interview, das sie 2009 dem Deutschlandfunk Köln gegeben hat, schilderte sie am Beispiel einer Möwe, wie sie als Komponistin auf die Klänge ihrer Umwelt reagiert: »Und dann sitze ich da und höre eben verschiedene Aufnahmen von einer Möwe und versuche, die zu re-notieren: den Rhythmus und vor allem das, was mich daran packt, das grässliche Kreischen zum Beispiel. Strukturen von Tierstimmen sind eben etwas ganz anderes als unsere ›Musikmusik‹«
Charakteristisch für Carola Bauckholt ist ihr 2013 entstandenes Stück Brunnen für Cello und Orchester. Inspiriert wurde es von einem Alltagsgeräusch, wie sie in einem Werkkommentar berichtet hat: »Vor vielen Jahren spielte mir die Komponistin Urla Kahl eine Aufnahme vor, die sie von einem Brunnen auf einer Alpweide in Graubünden in der Schweiz gemacht hatte. Dieses irreguläre Gurgeln des Abflusses, die tönende Zentrifugalkraft lässt mich nicht los und ich versuche sie musikalisch zu erfassen. Tag und Nacht ohne Ende hört man dort auf der Alp diesen Klang des Brunnens.« Brunnen ist jedoch nicht bloß eine kompositorische Verarbeitung dieser einen Klangquelle. In ihrem Stück für Orchester und Solocello hat Carola Bauckholt mehrdimensionale, vielschichtige Verbindungen, Verzahnungen, Kontrastierungen und Korrelationen von Alltagsgeräuschen und Orchesterklängen erschaffen. Da gibt es etwa die Ebene des Zuspiels: Das Brunnenplätschern und -gurgeln wird im Stück eingesetzt und zwar konkret der erwähnte »Brunnen auf einer Alpweide in Graubünden Schweiz«, jedoch auch »Abfluss einer Spüle in Tirol« und außerdem – damals noch Klangeindrücke aus einem Land im Frieden – »Bohrarbeiten in Kiew«. Solche akustische Fundstücke im Sinne einer Musique concrète vermischen sich in Brunnen mit dem Orchesterklang. Gleichzeitig werden die zugespielten Feldaufnahmen aber auch zu Impulsen für Entwicklungen im Orchester. Doch es gibt noch eine weitere Verhandlungsebene zwischen Geräuschen und Orchesterklängen: Die Besetzung im Orchester besteht in Brunnen nicht nur aus dessen traditionellen Instrumenten, sondern aus zusätzlichen Klangerzeugern, die ebenfalls aus dem Alltag stammen. So wird in der Partitur beispielsweise gefordert: »Wellpappe, gerieben mit Versandtaschen«, »Backofenrost, gerieben mit Telephonkarte« und »Harfe mit Ultraschall-Zahnbürste«. Insofern bietet Brunnen von Carola Bauckholt eine vielfach dimensionierte Vermittlung zwischen Orchesterklang und Klängen aus dem Alltag auf verschiedenen Ebenen.
Auf einen wesentlichen Aspekt in diesem komplexen und äußerst differenzierten Spiegelkabinett zwischen Orchesterinstrumenten, Alltagsklängen, Mimesis, Vermischung und Abgrenzung weist Carola Bauckholt indessen noch hin, wenn sie betont: »Die Übertragung und Verbindung von Klängen unserer Wirklichkeit mit der Kunstwelt eines Orchesters ist für mich sehr reizvoll. Ich versuche so präzise wie möglich das Charakteristische und Essentielle der Klänge herauszuschälen und zu instrumentieren. Natürlich ergibt das kein Abbild, sondern gleichzeitig schält sich auch das Charakteristische des Klangkörpers, der Instrumente und der Struktur eines Orchesters heraus.«
Die Konsequenzen aus dieser Auseinandersetzung mit den Geräuschen, die sich im Orchestergeschehen niederschlagen, bringen nicht zuletzt auch vielfältige rhythmische Gestalten hervor. Wie sollte dies auch anders sein bei einem initialen Impuls wie einem Brunnen? Später, ab der zweiten Hälfte des Stücks, breiten sich auch Klangflächen aus, die Impulse werden wie mit einem Mikroskop vergrößert und näher kompositorisch untersucht. Das solistisch eingesetzte Cello seinerseits bringt eigene Beiträge in diese vielfältigen Schichten ein. Es verstärkt und vergrößert Tendenzen im Orchester, reiht sich zwischendurch als eine Facette des Kollektivs ein und bringt bald darauf eigene solistische Gestalten in den Vordergrund – immer in der Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Klängen, die in das Orchester dringen und aus ihm herausströmen. Auf diese Weise vollzieht sich das instrumentale Reagieren auf die Impulse der Geräusche gleichzeitig auf einer orchestralen und einer solistischen Schicht.
Uraufgeführt wurde Brunnen im September 2013 beim Festival Klangspuren Schwaz mit Francesco Dillon als Solist am Cello und dem Tiroler Symphonieorchester unter der Leitung von Johannes Kalitzke. 2013 war der 250. Geburtstag des Schriftstellers Jean Paul. Das Stück ist als Auftragswerk im Kontext dieser Feierlichkeiten entstanden, schließlich lautete das Motto des Festivals in Schwaz 2013 »Neue Musik und romantisches Erbe«.
Der Ausgangspunkt für die Orchesterkomposition, ein Brunnen in ländlicher Umgebung, war damals für Carola Bauckholt überaus passend mit Blick auf Jean Paul. Denn der Schriftsteller wurde in der dörflichen Welt des oberfränkischen Fichtelgebirges geboren und ist dort aufgewachsen. In ihrem unvoreingenommenen, neugierigen und klugen Zugang auf die auditive Welt, wie sie dies in Brunnen weiterverarbeitet hat, beruft sich Carola Bauckholt deshalb nicht zuletzt auch auf Jean Paul: »Jean Paul betrachtet die Dinge und seine Figuren wie durch ein Mikroskop. Dieser Vorgang, das Näherholen, Betrachten und wieder Fortgeben schafft eine Poesie, nicht bloß einen Abdruck der Wirklichkeit.«