für Flöte und Orchester
Nicht nur in seiner Heimat Frankreich, sondern auch international hat Bruno Mantovani früh als dynamischer Komponist und Dirigent für Furore gesorgt, sei es an der von Pierre Boulez gegründeten Institution IRCAM, sei es an der Opéra Bastille, sei es bei den Berliner Philharmonikern. Seit 2010 ist Bruno Mantovani Leiter des traditionsreichen Pariser Conservatoire. Dort entstand die Idee zu einem Orchesterwerk mit Soloflöte aus seiner Feder: Die Flötistin Juliette Hurel, Soloflötistin des Rotterdams Philharmonisch Orkest, war nach Paris eingeladen, um am Conservatoire an einer Jury teilzunehmen. Bei einem Zusammentreffen mit Mantovani wurde der Plan zum neuen Werk gefasst. Der Dirigent Yannick Nézet-Seguin, neben seinen Positionen in Kanada und den USA auch Leiter des Orchesters in Rotterdam, unterstützte das Projekt, und so fand Anfang 2016 in Rotterdam die Uraufführung von Love Songs mit Juliette Hurel als Solistin statt.
Bruno Mantovani hat einmal erklärt, wie er zum Allerweltstitel Love Songs für seine Komposition für Flöte und Orchester gekommen ist. Seine Aussage zeugt vom entspannten selbstironischen Humor des Künstlers: Seitdem er öffentlich als Musiker in Erscheinung trete, sei er mit der Frage konfrontiert, ob er mit Annunzio Paolo Mantovani verwandt sei. Dieser britische Musiker italienischer Herkunft war seit den 50er Jahren als Dirigent und Arrangeur eine Größe in der Unterhaltungsmusik und mit Bearbeitungen von Standards, von La vie en rose bis zu Moon river, erfolgreich. Markenzeichen seines überzuckernden Sounds war der Effekt der Cascading Strings, ein auf minimale Echowirkungen hin geschichteter Streichersatz. »Ich habe keine verwandtschaftliche Verbindung mit dem Vater des Easy Listening und dem Mann, der für musikalische Sentimentalität und Zärtlichkeit im Klang steht«, so Bruno Mantovani, »aber diese Namensgleichheit gab mir immer das Gefühl einer gewissen Zuneigung gegenüber dem Künstler, der genau den Gegensatz zu meinen eigenen ästhetischen Überzeugungen darstellt. Eine seiner berühmtesten Einspielungen trägt den Titel Love Songs und somit, als Hommage an die Süße seiner Klänge, entschied ich mich, den Titel für dieses Flötenkonzert zu übernehmen. Gleichwohl, trotz meiner Liebe für dieses Soloinstrument, das solch einen Titel rechtfertigen würde, gibt es nur einige Elemente in diesem 2015 komponierten Stück, die etwas mit einem romantischen Lied gemein haben.«
Auch auf die Dramaturgie des traditionellen Konzerts verzichtet Bruno Mantovani. Denn seine Komposition Love Songs, die entgegen dem Plural im Titel aus einem einzigen durchkomponierten Satz besteht, hat nichts von einem musikalischen Kräftemessen oder von einem Wettkampf im Sinne des klassischen Konzertierens. In Love Songs ist die spieltechnisch überaus anspruchsvoll behandelte Soloflöte vielmehr als prima inter pares in das Orchestergeschehen integriert – und nahezu permanent präsent. Statt Widerstreit und Konkurrenz geht es um Gemeinsamkeit und Dialog. Soloflöte und Orchesterkollektiv sind sich gleichermaßen Resonanzraum, Partner auf Augenhöhe und gegenseitige Impulsgeber, die sich flexibel in der Führung abwechseln, bei filigranen Klanggebilden genauso wie bei heftigen Eruptionen. Sämtliche Stationen, sämtliche Umschwünge und Umbrüche des Werks, werden tatsächlich im Miteinander von Flöte und Orchester durchlaufen.
Eckhard Weber