Surrounded by Air – Appearance III ist Teil einer im Jahr 2017 begonnenen Werkreihe von Bianca Bongers. Die Cellistin und Komponistin stammt aus der niederländischen Stadt Breda und ist vor fünf Jahren in den Nordwesten des Landes, nach Haarlem in der Provinz Nordholland, gezogen und damit auch näher ans Meer. Dieses biografische Detail ist eine wichtige Inspiration für ihre Werkreihe Surrounded by Air. Sie vereint Kammermusik, realisiert in unterschiedlichen Besetzungen, die Sinneswahrnehmungen an bestimmten Orten von Haarlem in Klänge fasst. Für Bianca Bongers war gerade dies nach ihrem Umzug nach Haarlem tatsächlich eine neue Erfahrung: »Ich habe hier wieder meine Sinne gebrauchen gelernt. Ich bin sehr sensibel in der Wahrnehmung, wenn ich an einem für mich neuen Ort bin. Mein Gehör ist sehr wach für die Klänge, auf ganz natürliche Weise bemerke ich die Besonderheiten eines Ortes«, erzählt Bianca Bongers im Interview für Ultraschall Berlin. In Haarlem empfand sie die Luft neu, sie spürte den Nordseewind in dieser Stadt, die nah am Meer liegt, und auch das Licht erlebte sie in einer neuen Qualität.
Hinzu kommt, dass Bianca Bongers die Musik in spezifischer Weise begreift: »Ich beschäftige mich seit längerem damit, musikalische Objekte zu gestalten. Ich arbeite mit einer dreidimensionalen Vorstellung von Musik. Meine erste Idee für Surrounded by Air – Appearance III war eine Kombination verschiedener geometrischer Formen, die in unterschiedlichen Winkeln zueinander stehen und somit eine dreidimensionale Form einnehmen. Die Idee war, sich dieses Objekt als Klang an unterschiedlichen Orten von Haarlem vorzustellen.« Surrounded by Air – Appearance III stellt damit den Versuch dar, etwas Bildliches aus dem Raum in etwas Klingendes in der Zeit zu übersetzen.
Zu Beginn des Stücks, in Figure I , wird das gewissermaßen als Objekt im Raum konzipierte musikalische Material eingeführt: Als Quadrat klanglich dargestellt mit vier verschiedenen Tönen praktisch in »durchbrochener Arbeit« auf die drei Instrumente aufgeteilt, jeweils als gemeinsames Signum mit der gleichen Dynamik und der gleichen Akzentuierung und auf diese Weise miteinander verbunden. Für die Form des Dreiecks werden wiederum drei Töne in einer vom Quadrat unterschiedlichen Dynamik und Akzentuierung auf die korrespondierenden Instrumentalparts verteilt. Auf diese Weise entstehen simultan unterschiedliche klangliche Ebenen in der Musik.
Im Abschnitt Places I, narrow city street – brick texture (»Enge Gasse einer Stadt – Ziegelsteinoberflächenstruktur«) dominieren kurze gestische Bewegungen, oft abgerissene Figuren, die in den Instrumenten in enger Folge aufeinanderfolgen. Diese Klänge werden geleitet von der Vorstellung, Ziegelsteinmauern während des Gangs durch eine enge Gasse zu berühren. Kleinteiligkeit, aber auch der taktile Eindruck von der Intensität einer rauen Oberfläche an den Ziegeln wird klanglich umgesetzt in Perspektivwechseln, dem Wechsel von Heranzoomen und Entfernen: In der Musik zeigen sich dieses optischen und taktilen Eindrücke als klangliches Äquivalent in Dynamikkontrasten unterschiedlich gestaffelter Akkorde und in Temposchwankungen.
Eine kurze Überleitung (Figure II) führt zu Canal facades, water reflection (»Häuserfassaden in den Grachten, Lichtreflexe auf dem Wasser«): Das Stadtbild von Haarlem ist wie Amsterdam von Grachten geprägt. Die Wahrnehmung, wie sich Konturen, die sich im Wasser spiegeln, verwischen und verändern, bestimmt diese Passage. Die gemeinsamen Akkorde des Trios werden durch Triller und Glissandi in ihren Tonhöhen gewissermaßen verwischt. Durchgehende, kleinteilige Dynamikkontraste verstärken den Eindruck eines ständigen Schillerns.
Für die Passage Places II, Water and air (»Lieblingsort«) (»Orte II, Wasser und Luft (›Lieblingsort‹)« hat Bianca Bongers im Vorfeld die Musikerinnen des Trio Catch nach deren eigenen Lieblingsorten gefragt. Die drei in Hamburg ansässigen Ensemblemitglieder nannten unter anderem die Alster, wo sie regelmäßig ein Gefühl der Freiheit und der Weiträumigkeit verspüren, selbst wenn sich dort viele Leute tummeln. Bianca Bongers überlegte sich daraufhin, bei welchem Ort in Haarlem sie ähnliche Eindrücke hat. Ihr fiel eine Brücke über den Fluss Spaarne ein, in der Nähe des traditionsreichen Teylers Museum für Natur- und Technikgeschichte. Auf der Brücke spüre sie – mitten in der Stadt – nichts als Wasser und Luft, so die Komponistin. Tatsächlich wirkt dieser Abschnitt von Surrounded by Air – Appearance III wie ein klingendes Mobile: Luftig, schwebend, obertonreich, mit kurzen Umspielungen und Trillern. Wellenartige Figuren kommen und gehen. Die Musik erinnert an manche filigranen Strukturen in der traditionellen Musik Ostasiens, nicht zuletzt auch durch pentatonisch geprägte Wendungen. Diese tonale Färbung sei in ihrer Musik indes intuitiv entstanden, so die Komponistin, nicht auf der Basis einer theoretisch gefassten Entscheidung für ein tonales System.
Ganz andere Eindrücke finden sich in der Schlusspassage Places III, purple flower meadow (»Orte II, Wiese mit violetten Blumen«). Hier hat die Musik eine gesprenkelte Textur, mit Arpeggien und Wellenbewegungen in großen Intervallsprüngen, ein klingender Mikrokosmos, der sich aus dem ausbalancierten Nebeneinander unabhängig voneinander verlaufender einzelner Einsätze in den Instrumenten ergibt. Die hier entstehenden Zusammenklänge, Konsonanzen und Dissonanzen, werden immer wieder neu ausgehandelt. Wie das lebendige Nebeneinander auf einer intakten Wiese mit üppiger Flora und Fauna.
Eckhard Weber