Der österreichische Komponist Bernhard Lang, der aus Linz stammt und in Graz lehrt, hat den Begriff Monadologie dem Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz entlehnt. La monadologie ist der Titel einer 1714 zunächst in französischer Sprache fertiggestellten Abhandlung. 1720, vier Jahre nach Leibniz‘ Tod, erschien sein Text dann erstmals in deutscher Sprache unter dem Titel Lehr-Sätze über die Monadologie. Eine Monade, sarkastisch später auch als »spirituelles Atom« bezeichnet, ist eine unteilbare Substanz. Vereinfacht formuliert ist Leibniz‘ Monadologie ein philosophischer Ansatz, sämtliche Erscheinungen der Welt auf ihre Ursprünge und damit auf ihre kleinsten Einheiten zurückzuführen. Und zwar nicht, wie die Naturwissenschaft es betreibt, als Atome, sondern im gedanklichen Zusammenschluss von Materie und Metaphysik. Leibniz verstand seine Monadentheorie ausdrücklich als eine Gegenposition zur Atomtheorie. In seiner Epoche wurden Atome mit einem leeren Gefäß verglichen. Genau dies war der Anhaltspunkt, weshalb Leibniz seine Auslegung der Dinge als die überlegenere betrachtete: Monaden vermögen sich in der Zeit kontinuierlich verändern. Aber vielleicht sollten diese historischen Dispute in einer Betrachtung über Musik auch nicht überstrapaziert werden …
Bernhard Lang hat unter dem Titel Monadologie seit 2007 eine ganze Werkreihe hervorgebracht, die bis heute auf rund vierzig Stücke angewachsenen ist. Die Besetzungen sind wechselnd und individuell, vom Solostück bis zum Orchesterwerk. Was all diese Stücke gemeinsam haben, ist die grundsätzliche Kompositionstechnik und fast immer die Referenz auf Stücke aus der Musikgeschichte. Dies können Werke von Henry Purcell, Joseph Haydn, Franz Schubert oder Frédéric Chopin sein. Bernhard Lang zieht also vorliegende Werke von Vorgänger:innen heran, seziert Elemente aus diesen Vorlagen und nimmt sie als Ausgangspunkte für seine eigene Musik in den Monadologien. Zu diesem Zweck arbeitet er mit Samples, die er computergesteuert zu eigenen Strukturen und Texturen in einer Monadologie weiterverarbeitet. Bernhard Lang hat sich am der Kunstuniversität Graz angegliederten Institut für Elektronische Musik und Akustik schon früh mit Computertechnik in der Musik und digital gestützter Komposition beschäftigt und selbst Software für die Komposition entwickelt. Im Zusammenhang mit den Monadologien hat er erklärt: »Basierend auf Gilles Deleuzes Die Falteund der Monadologie von Gottfried Wilhelm Leibniz entwickelte ich zwischen 2004 und 2007 verschiedene virtuelle Maschinen, mit denen ich die Durchleuchtung und Entwicklung zellulärer musikalischer Prozesse versuchte.«
2009, also im Entstehungsjahr von Monadologie VII, hat Bernhard Lang zu seiner Werkreihe der Monadologien folgende vier Punkte als charakteristisch notiert: »Sie arbeiten mit kleinsten Ausgangszellen als Generatoren des gesamten musikalischen Materials. / Diese Ausgangszellen sind größtenteils Samples aus vorhandenen Materialien/Stücken. / Die Partituren entstehen durch Einsatz zellulärer Automaten, sind also maschinell entwickelt und stellen selbst abstrakte Maschinen im Deleuzischen Sinn dar. / Die Zellen durchschreiten diskrete Zustände als komplexe Differentiale, zeigen also fortwährende Mutationen.«
Die Monadologien sind letzten Endes Musik über Musik, jedoch nicht dramaturgisch ausgestellt, sondern versteckt, weil die Vorlagen letztlich atomisiert sind und anschließend permanent verändert werden. »Metakomposition« wurde als Bezeichnung für Bernhard Langs Ansatz eingebracht, auch von musikalischem »Recycling« ist im Zusammenhang mit den Monadologien die Rede. Die Monadologien sind Musik zwischen Vertrautem und Verfremdung, zwischen Alt und Neu. Damit erteilt Bernhard Lang der Moderne gleich eine dreifache Absage: Er verabschiedet sich von der Originalitätsästhetik und von den Forderungen nach Materialerneuerung, außerdem setzt er bewusst in seinen Strukturen auf Repetition. Doch aufgrund einer derart komplexen und differenzierten Weiterverarbeitung der Samples in seinen Werken kann von Epigonentum oder einem Retro-Stil sowieso nicht die Rede sein. Bernhard Lang schafft in seinen Monadologien souverän etwas völlig Individuelles und Neues, das nur bei genauer und eingehender Analyse auf das Referenzobjekt zurückzuführen ist. Sein Blick auf die Musikgeschichte mit kompositorischen Mitteln ist vielmehr adäquater Ausdruck und kreative Antwort auf die medialen Zumutungen und Überforderungen der Moderne, Postmoderne und Metamoderne. Die Berliner Philosophin und Medientheoretikerin Sabine Sanio schreibt über Bernhard Lang: »Die Musik von Bernhard Lang gilt der Frage, was die moderne Audiotechnik mit der Musik macht, wie sich unser Hören verändert, wenn wir alle Werke der Musikgeschichte den ganzen Tag beliebig oft und völlig unverändert hören und unterschiedichste Versionen bis auf’s letzte Detail miteinander vergleichen können.«
Das Orchesterstück Monadologie VII, das denUntertitel Kammersinfonie trägt, ist mit der Musik von Arnold Schönberg verbunden, wie Bernhard Lang in einem Werkkommentar erläutert hat: »Dieses Werk nimmt auf Schönbergs II. Kammersinfonie Bezug, gespiegelt in der viersätzigen Grundstruktur; aus dem Original werden, durchaus im Schönbergschen Sinn, Motivzellen entnommen und prozessiert, was zu neuen Texturen führt, welche das Original nicht mehr zitieren, sondern als Palimpsest im Hintergrund erahnen lassen. In diesem Sinn kann man das Stück als Überschreibung bezeichnen.« Aufgeteilt ist Bernhard Langs Komposition in vier »Hauptthemenkomplexe«, die er aus der Vorlage extrahiert hat. Hinzuzufügen wäre, dass Bernhard Lang auch nicht versucht, in irgendeiner Weise dem Orchesterklang aus der Vorlage von Schönberg zu folgen: Monadologie VII hat eine andere Besetzung als das Referenzstück. Dieses, Schönbergs Zweite Kammersinfonie op. 38, umfasst in der Besetzung ein klassisches Kammerorchester mit zweifacher Bläserbesetzung und Streicherchören. Bei Lang besteht das Orchester dagegen aus einer Flöte, einer Oboe, zwei Klarinetten, einem Fagott, einer Trompete und einer Posaune, dazu kommen zwei Geigen, eine Bratsche, zwei Celli und ein Kontrabass sowie zusätzlich noch Akkordeon, Klavier und zweifach besetztes Schlagzeug. Dennoch weht durch die Monadologie VII in der Klangaura etwas, das an Schönberg erinnert. Aber wäre dies auch der Eindruck, wenn der Ausgangspunkt nicht bekannt wäre? Unzweifelhaft besitzt die Musik Bernhard Langs in Monadologie VII trotz ihrer Vielgestaltigkeit ihre eigene Aura – mit ihren Klangflächen, ihren Wiederholungschleifen, ihren energiegeladenen rhythmischen Feldern, ihren explosiven Akzenten, ihren wechselnden Texturen, ihren scharf konturierten Gestalten, ihren Spannungs- und Entspannungszuständen, ihren Verdichtungen und Ausdünnungen, Steigerungspassagen und montageartigen Verschiebungen.
Die Entscheidung von Bernhard Lang, Schönbergs Zweite Kammersinfonie op. 38 als Ausgangspunkt für seine Komposition auszuwählen, verleiht der Metakomposition Monadologie VII indes eine besondere Stellung innerhalb der gesamten Monadologie. Denn in gewisser Weise ist Schönbergs Stück bereits eine Metakomposition, zumindest Teile davon: Der erste Satz, Adagio, ist früh entstanden, 1906, noch bevor Schönberg den radikalen Schritt in die »Emanzipation der Dissonanz« vollzog. Der zweite Satz, Con fuoco, wurde jedoch erst über dreißig Jahre später fertiggestellt, 1939, im US-Exil in Los Angeles – und zwar nachdem Schönberg bereits über fünfzehn Jahre Erfahrung mit der Reihentechnik hatte, mit seiner Methode der »Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen«, wie er sie nannte. Mit der Fertigstellung der Zweiten Kammersinfonie geht Schönberg also mehrere Schritte zurück und begibt sich wieder in seine frühere Kompositionstechnik, die sich an den Grenzen der Tonalität bewegt. Allerdings mit dem Denken und den Einsichten, die er aus der Reihentechnik gewonnen hat. In einem Brief schreibt Schönberg 1939 dem Auftraggeber dieser Fertigstellung der Zweiten Kammersinfonie, dem Dirigenten Fritz Stiedry: »Seit einem Monat arbeite ich an der Zweiten Kammersinfonie. Die meiste Zeit verbringe ich damit, herauszufinden: ›Was hat der Autor hier gemeint?‹ Mein Stil hat sich inzwischen ja sehr vertieft und ich habe Mühe, das was ich berechtigterweise seinerzeit im Vertrauen auf mein Formgefühl, ohne vieles Nachdenken hinschrieb, nun mit meinen weitgehenden Anforderungen an ›sichtbare Logik‹ in Einklang zu bringen.« Bernhard Langs kompositorische Weiterverarbeitung des Materials von Schönberg in Monadologie VII wäre insofern nicht bloß eine Metakomposition, sondern eine Meta-Metakomposition – auch wenn ihr dies überhaupt nicht anzuhören ist.
(Eckhard Weber)