Der Titel von Bernd Alois Zimmermanns Orchesterwerk Photoptosis stammt aus dem Griechischen und bedeutet »Lichteinfall«. Dies hat der Komponist in einem Werkkommentar betont und den Bezug zu seiner musikalischen Gestaltung erläutert: »Bei dem Prélude bezieht sich dieser Vorgang auf die Veränderungen von Farbflächen, wie sie durch die Art und Weise des Lichteinfalls auftreten: hier im Bereiche der Klangfarbe im weitesten Sinne. Anregung für die Komposition gaben die monochromen Wandflächen des Foyers im Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen, in der Ausgestaltung von Yves Klein.«
Das Gelsenkirchener Opernhaus, das Musiktheater im Revier, ist einer der visionärsten Bauten der Nachkriegszeit, entstanden von 1957 bis 1959 unter Federführung des Architekten Werner Ruhnau, der auch bildende Künstler einband. Gemäß dem Konzept einer »Architektur der Luft« öffnet sich das Gebäude in die Stadt, einerseits durch eine große Fensterfront, die sich über das gesamte zweistöckige Hauptfoyer an der Südseite zieht, und andererseits durch die Farbgestaltung innen. Hier kommt dem intensiven Blau, das Ives Klein eigens als International Klein Blue für seine Zwecke entwickeln ließ, eine wichtige Rolle zu. Spiegelsymmetrisch sind an den beiden Seitenwänden und an der Rückwand des Foyers vier riesige, blau strahlende Monochrome von Klein angebracht: »Es ist eine Suggestion eines Badens in einem Raum, der weiter ist als das Unendliche. Das Blau ist das sichtbar werdende Unsichtbare«, erklärte Klein in diesem Zusammenhang.
Zimmermann erstellte in Photopsosis mit dem breiten Spektrum des großen spätromantischen Orchesters (inklusive Klavier, Celesta, Orgel und einer Schlagzeuggruppe) eine komponierte Klangfarbenstudie. Doch es ging ihm um weit mehr: Wie Yves Klein sich mit der Unendlichkeit des Raums auseinandersetzte, so befasste sich Zimmermann mit phänomenologischen Fragestellungen um Zeitdehnung und mit der Aufhebung von Zeit in der Musik, somit mit der Suggestion zeitlicher Unendlichkeit. In Photoptosis versuchte er dies umzusetzen, indem er zwei unterschiedliche Zeitstrecken übereinanderschichtete, die festgelegten Proportionen folgen. Diese bestimmen die Dauern zwischen den akzentuierten klanglichen Impulsen und den Klangflächen.
Gleichzeitig ist das klangfarbliche Oszillieren in Photoptosis großformal eingebettet in eine lineare Dramaturgie mit der »Darstellung der zartesten Klangfarbenschattierungen, beginnend gewissermaßen mit einem Minimum an Lichteinfall bis zum Maximum desselben zum Schluss des Werkes«, wie Zimmermann es formulierte. Fahle Klangfelder verdichten sich zunehmend zu gewaltigen Farbentfaltungen. In diese stetige Spannungssteigerung bricht etwa in der Mitte des rund 12-minütigen Werks eine kurze Zitatanhäufung ein, laut Zimmermann ein »flüchtiger Collageteil«. Im Sinne der vielzitierten »Kugelgestalt der Zeit« gehören solche Zitate zur »pluralistischen Kompositionstechnik«, die das postserielle Spätwerk Zimmermanns bestimmt und nach seinen Worten »der Vielschichtigkeit unserer musikalischen Wirklichkeit Rechnung trägt«. Die Passage beginnt deutlich erkennbar mit der »Schreckensfanfare«, die den Schlusssatz von Ludwig van Beethovens Sinfonie Nr. 9 einleitet, zudem mit kurz aufscheinenden Zitaten unter anderem von Richard Wagners Parsifal-Vorspiel und Alexander Skrjabins Le Poème de l’extase sowie aus dem Pfingsthymnus »Veni creator spiritus« in zeitlich gedehnten Ausformungen. Es handelt sich um Musik, in der versucht wird, Antworten auf die existenzielle Frage nach Erlösung zu geben. Doch der drängende, bedrohlich greller werdende Farbrausch wird bis zu seiner finalen Entfesselung von diesen Heilsversprechen nicht aufgehalten.
Eckhard Weber