- manische Episode
- poisoning time
- Tour de Trance
(…) so katastrophisch groß, war sie arena / worin die trümmer von objekten trieben, /wilde schläge in der ferne, keiner hörte, /jeder fühlte, die wellen der erschütterung. (…)
Monika Rinck: Tour de Trance
Arnulf Herrmann, was hat Sie am Gedicht Tour de Trance von Monika Rinck für Ihr Komponieren fasziniert?
Das Schöne an der Arbeit von Monika Rinck ist, dass sie mit ganz verschiedenen Formen in großer Freiheit experimentiert: Lyrik, Essays, Versuche in Richtung écriture automatique und vieles mehr. Als ich die Tour de Trance in dem Lyrikband Vom Fernbleiben der Umarmung gefunden habe, war mir von Anfang an klar, dass ich etwas damit machen möchte. Der Text ruhte dann aber erstmal längere Zeit bei mir in der Schublade.
Worum es im eigentlichen Sinn geht, war für mich dabei gar nicht so ausschlaggebend. Was mich angezogen hat: Der Schwebezustand zwischen einer existentiellen und gleichzeitig abstrakten Schilderung, sowie die vielfältigen Variationen, zum Beispiel von Schwereempfindungen und Bewegungsformen. Das Gedicht spielt in einer Situation, in der zuvor scheinbar ein katastrophisches Ereignis stattgefunden hat.
Monika Rinck findet die Mittel, um das, was zwischen der Katastrophe und dem finalen Stillstand passiert, sprachlich zu fassen. Die Vieldeutigkeit dieses Schwebezustandes, die Vielzahl der Perspektiven, hat mich unmittelbar angesprochen und berührt.
Über den Arbeitsprozess mit der Gedichtvorlage von Monika Rinck haben Sie 2021 in einem Interview vor der Münchner Uraufführung ihres Stücks im Rahmen der Reihe musica viva des Bayerischen Rundfunks erklärt, sie hätten „verschiedene Stollen in den Text gegraben, so dass ich von innen und außen auf Struktur- und Bedeutungsebene beginnen konnte, mit ihm umzugehen.” Wie sah das konkret beim Komponieren aus?
Im speziellen Fall der Tour de Trance war es für mich wichtig, mir nach der ersten Faszination Distanz zu verschaffen. Konkret hat das bedeutet, dass ich mich dem Text auf verschiedene Weise genähert habe, zum Beispiel einerseits strukturell, analytisch, was erst einmal Distanz erzeugt, und andererseits mit einem unmittelbaren, intuitiven Zugriff. Das geschieht aber nicht geordnet nacheinander, sondern verschränkt und überlappt sich. Beim Schreiben ist das ab einem gewissen Punkt nicht mehr trennbar.
Zunächst ist ein Klavierlied auf der Basis des Gedichttextes entstanden. Wie kam es später zur Ausweitung in Form einer viersätzigen Komposition mit Orchester und Sopran?
Es war mir von Anbeginn an klar, dass es von dem Klavierlied auch eine Version für Orchester geben sollte. Nur wie und in welchem Rahmen, das hat sich in der Folge erst entwickelt.
Welche Schichten sind im jetzigen Vokal-Orchesterwerk noch übrig vom ursprünglichen Klavierlied?
Letztlich alle. Es ist nur noch etwas dazugekommen, sowohl in der Ausdehnung als auch in der strukturellen Tiefe. Manches, was im Klavierlied angelegt war, konnte ich erst im Orchester wie in einem dreidimensionalen Raum entfalten.
Sie arbeiten in Ihrer Musik mit „Interaktionsfiguren”, wie Sie sie nennen. Wie funktionieren die in Ihrer Musik?
Das hat keinen wirklichen Theorieanspruch. Ich persönlich verwende für mich den Begriff der Interaktionsfigur lieber als den Begriff Motiv, da er mir das Phänomen besser zu erfassen scheint. Denn der Ausgangspunkt meines Denkens ist fast nie nur ein einzelnes Element oder Ereignis, sondern eine Konstellation, ein Beziehungsgeflecht zwischen mehreren Elementen, das ich in der Folge entwickle, entfalte, verfremde und umdeute.
Diese Vielschichtigkeit der Ausgangsgedanken ist sehr wichtig für mich und sehr nahe an dem, wie man heute – zumindest in der Psychologie – die Konstruktion und ständige Umschrift von Erinnerungen interpretiert. Hier suche ich für mich nach Lösungen. Im Idealfall entsteht so das Gelingen eines Spagats: Intensität des Augenblicks und maximaler Beziehungsreichtum über den Augenblick hinaus.
Der erste Teil Ihres Werks trägt den Titel manische Episode. Was hat es damit auf sich?
Der erste Teil mit dem Titel manische Episode ist in gewisser Weise ein Stück im Stück und kann auch einzeln aufgeführt werden. In ihm wird eine einzige Interaktionsfigur immer weiter zerlegt, umgeschrieben und weitergetrieben. Die Musik rennt, bildlich gesprochen, wieder und wieder und mit zunehmender Intensität gegen eine unsichtbare Wand an. Das Stück war ursprünglich als eine Hommage an den ersten Satz der fünften Sinfonie Beethovens konzipiert – und an die extreme Prozessualität in diesem Satz.
Die Uraufführung im Beethovenjahr 2020 fiel der Pandemie zum Opfer. Was dann passierte, ergab sich für mich fast zwangsläufig wie in einer Verselbstständigung des Materials. Während der Arbeit an der manischen Episode gab es durch den Gedanken der fortwährenden Transformation einer einzigen Interaktionsfigur und der klaren Zielgerichtetheit des Satzes einen starken Impuls, das Stück weiterzuschreiben und die Struktur aufzubrechen, um mit einer stärker zerklüfteten, metaphorisch gesprochen dreidimensionalen Form voller Vor- und Rückbezüge das Ganze weiterzuentwickeln und zusätzliche Facetten aufzuzeigen. Es gab gewissermaßen ein noch ungeöffnetes Zimmer hinter dem Stück, das mich dann ganz organisch zum Text von Monika Rinck und der Stimme von Anja Petersen geführt hat. Ich habe das schon früh im Kompositionsprozess gespürt und in der Folge dann ganz gezielt entwickelt. Das allmähliche Wachstum in die übrigen Sätze hinein, bis hin zur Einbindung des Soprans in den letzten beiden Sätzen war für mich etwas Neues und eine ganz wunderbare Arbeitserfahrung.
Ihr Stück hat die Besetzungsanweisung „für Orchester mit Sopran” statt wie üblich „für Sopran und Orchester”. Das hängt offensichtlich gerade damit zusammen, dass der Sopran erst im dritten Satz einsetzt. Die Vokalstimme werde hier „allmählich in das Orchester hineingetragen”, haben Sie einmal erläutert. Wie vollzieht sich das konkret?
Ich denke, das hört man am besten selbst, denn das sollte – auch in den wechselnden Rollenverteilungen – zuallererst sinnlich erfahrbar sein.
Sie haben bei Ihrer Komposition auch die Sitzanordnung der Orchestergruppen miteinbezogen.
Ganz generell denke ich die räumliche Disposition eines Orchesters von der ersten Sekunde an mit. Das zeigt sich zum Beispiel bereits in der sogenannten europäischen Sitzordnung, bei der sich erste und zweite Geigen gegenüber sitzen anstatt nebeneinander positioniert zu sein. Das erlaubt vielfältige räumliche Wanderungen des musikalischen Materials. Das hat aber eine lange Orchestertradition und ist vielleicht nur etwas aus dem Blick geraten.
(Interview: Ecki Ramón Weber)