Ein populäres, harmlos daherkommendes Wiegenlied hat Arnulf Herrmann für sein neues Duo-Werk als Ausgangsobjekt in den Fokus genommen: Der Titel seiner Komposition Rockabye – versehen mit dem Untertitel »[Wiegenlied (Nachtstück) und Traum]« – verweist auf das im englischen Sprachraum, vor allem in den USA, verbreitete Wiegenlied Rock-a-bye Baby, ein Traditional. Der Text des Liedes erscheint um 1765 erstmals in der in London publizierten Gedichtsammlung Mother Goose’s Melody, er soll jedoch bereits im 16. Jahrhundert in den nordamerikanischen Überseekolonien entstanden sein. Das Lied beginnt mit den Worten: »Rock-a-bye baby / on the tree top. / When the wind blows / the cradle will rock.« (»Schlaf schön, mein Kleines / hoch oben im Baum, / der Wind schaukelt die Wiege«). Anschließend wird im Text diese verträumte Idylle jäh unterbrochen: Ein Ast bricht und die im Baum aufgehängte Wiege fällt herunter. Im englischen Original wird die tragische Wendung mit einer allgemeinen Formulierung hinreichend diffus mit Blick auf mögliche Konsequenzen des Unfalls belassen: »And down will come Baby, / cradle and all.« Tatsächlich jedoch scheint im englischen Original der Sturz glimpflich verlaufen zu sein: In den folgenden beiden Strophen heißt es, das Kind schlummere weiter. Betont wird ausdrücklich, sowohl in der zweiten als auch in der dritten Strophe, die Mutter sei in der Nähe, das Kind könne somit behütet bis zum Sonnenaufgang schlafen.
Eine deutsche Übersetzung, die der in Heidelberg geborene Komponist Arnulf Herrmann neben dem englischen Originaltext seiner Partitur voranstellt, ist direkter und schonungsloser. Hier endet die erste Strophe mit den Worten »und das Baby samt Wiege / Landet im Grab«. Arnulf Herrmann misstraut der Idylle im Wiegenlied und sieht darin Gräben aufklaffen, die bis in die Tiefen des Unterbewusstseins reichen. In einem Werkkommentar zu Rockabye schreibt er: »Kinder lieben sie, Eltern singen sie mit nostalgischen Gefühlen, und sie werden über Generationen weitervererbt: Kinderlieder. Doch die Idylle hat einen doppelten Boden: Manche Lieder sind weniger nett, als man es gern hätte. Böse Kinderlieder zielen direkt auf das Kind, für das gesungen wird. Das Kind soll still sein, schlafen – und zwar schnell. Wer Schlaflieder singt, will seine Ruhe haben. Das Kind ist nicht nur pures Glück, sondern bedeutet auch Einschränkung, Arbeit und Fesselung ans Haus. Diese Seite der Beziehung ist in der aufgeräumten Glättung des Volks- und Kindertümlichen unter die Räder gekommen.« Weiter führt er aus: »Das Wiegenlied aus dem Volk ist – ganz anders als es uns viele süßliche Varianten glauben machen wollen – nicht kindgemäß. Es ist lakonisch, nicht rührselig. Jeder Zweck, das Kind zur Ruhe zu bringen, ist ihm recht: vom drastischen Ertränken bis hin zum Verheiraten. Das ist jenseits politischer Korrektheit, Vernunft oder zeitgemäßer Pädagogik.«
Diese enorme Fallhöhe, die auch in Rock-a-bye Baby angelegt ist, lotet Arnulf Herrmann in rockabye kompositorisch aus: Die Melodie des zitierten Wiegenlieds wird mit dem englischen Originaltext vom Sopran zunächst in der bekannten Form, indes statt in wiegendem Legato verfremdet mit Pausen zwischen den Melodietönen dargeboten, was den Eindruck eines Stammelns erzeugt. Danach werden Elemente der Originalmelodie einer fortwährenden Transformation unterworfen: variiert, zerstückelt bis auf einzelne Wörter, gestaucht oder mit Koloraturen erweitert, etwa wenn ausgedehnte chromatische Abwärtsläufe den Sturz der Wiege ins Monströse vergrößern und die obsessive Wiederkehr des Wortes »down« den Sturz der Wiege geradezu wie einen Flashback nach einer Traumaerfahrung erscheinen lassen.
Der Klarinettenpart – zunächst die B-Klarinnette, später die Kontrabassklarinette – intensiviert passagenweise die Vorgänge in der Singstimme. Doch die Klarinette hat in rockabye noch eine andere, viel wichtigere Aufgabe: Sie kreiert von Anfang an, noch bevor der Sopran einsetzt, den Grundton des Unbehagens. Auch wenn die Klarinette erst, wie es in der Partitur steht, »ganz zart, wie gehaucht« einsetzt: Schon das Schillernde der sequenzierten Trillerfiguren zu Beginn enthält etwas untergründig Bedrohliches und weist so auf die weitere Entwicklung in diesem Stück voraus. Die Sopranistin setzt zwischendurch eine Ratsche ein und betätigt am Ende eine kleine Kurbelspieluhr, aus der als Walzenmelodie Rock-a-bye-baby ertönt, wirkungsvolle musikalische Verfremdungstrategien, die das Unbehagen, ja das unterschwellige Grauen verstärken. Das vermeintlich Alltägliche und Harmlose wird zur Bedrohung – eine dramaturgische Inszenierung wie in einem guten Hitchcock-Thriller.
Eckhard Weber