Die Komponistin Annette Schlünz, in Dessau geboren, ist heute eine Grenzgängerin zwischen Frankreich und Deutschland, sie lebt und arbeitet in Straßburg, Kehl und Dresden. Die Urfassung ihrer 9 Gesänge hat sie 2014 für ein Sybillen-Projekt mit dem Duo Mixtura und dem Countertenor Kai Wessel komponiert. Die überarbeitete Fassung für Stimme und Akkordeon bringt die Mezzosopranistin Hildegard Rützel mit dem Duo Mixtura bei Ultraschall Berlin 2019 zur Uraufführung.
Sybillen, weissagende Prophetinnnen aus der Mythologie, die seit der griechischen Antike Erwähnung finden, äußern sich im Gegensatz zu Orakeln, die erst befragt werden müssen, aus einer Ekstase heraus. Dieser Aspekt bringt sie mit der Seherin Kassandra aus dem Mythos um Troja in Verbindung, die vor dem Untergang der Stadt warnte. In ihren 9 Gesängen hat Annette Schlünz die Figur der Sibylle in Bezug zu Texten von Dichterinnen des 20. und 21. Jahrhunderts in Bezug gesetzt und konzentrierte, dramatisch verdichtete Stücke komponiert, die auf diese Weise den Aspekt der Ekstase andeuten. Die Gattungseinteilungen zwischen Vokal- und Instrumentalmusik werden dabei aufgelöst. In den 9 Gesängen gibt es auch jeweils ein Solo für Akkordeon und Schalmei sowie ein Duo mit Schalmei und Akkordeon.
Die Titel dieser Instrumentalgesänge sind Zitate aus Christa Wolfs Erzählung Kassandra (1983):
Nr. 1 Wer wird und wann, die Sprache wiederfinden ist ein Solo für Akkordeon in vorwiegend zweistimmiger, dichter Kontrapunktik mit Hinweisen auf die Hoquetus-Technik aus der Epoche Ciconias, einen Austausch kurzer Figuren zwischen den Stimmen. Nr. 6 Ich bleibe zurück ist ein kurzer, virtuoser Sologesang für Schalmei mit Trillern, Umspielungen und Glissandi. Der Titel Der Schmerz soll uns an uns erinnern von Nr. 8, einem Duo für Schalmei und Akkordeon, wird in einer Notiz zu Beginn der Partitur fortgesetzt: »An ihm werden wir uns später, wenn wir uns wiedertreffen, falls es ein Später gibt, erkennen. / Das Licht erlosch. Erlischt. / Sie kommen.« Die Schalmei ist mit ihren Linien in das Satzgefüge des Akkordeons integriert, beide ergänzen sich in ihren Phrasen.
Diejenigen Stücke des Zyklus, in denen die menschliche Stimme mitwirkt, folgen nicht den Konventionen herkömmlicher Liedtradition mit Gesang und Begleitung. Stattdessen wird das Verhältnis zwischen Instrumentalem und Vokalen stets neu verhandelt: In Nr. 2 Sanftes Mädchenlied, einem Duo, sind die Linien von Stimme und Schalmei so eng verflochten, dass nicht zu entscheiden ist, wer hier eigentlich wen umsingt. In der Nr. 3 Bei der Quelle, an der Wurzel des Eschenbaums, welch Raunen entstehen die Einsätze der Schalmei und der Singstimme ausgehend von den Strukturen im Akkordeon. Teils stehen hier Cluster neben Anleihen aus Renaissancemusik. In Nr. 4 Schroff fällt das Eis vereinen Stimme und Akkordeon in starren Akkordblöcken. Dies wird am Ende der Perioden bei Reizworten wie »Komödie«, »Zwiespalt« und »Leben« aufgelöst und ist vollständig aufgeschmolzen in der gewissermaßen befreiten Vokallinie der Schlusspassage mit den Versen »Die kugel trifft sie / schlägt mir ins gesicht / Und zeugt ein neues / traum unruhe zweifel / Traut mir nicht«. In Nr. 5 Der Grund deines Leibs beteiligen sich alle drei Partien mit Geräuschanteilen, die Singstimme mit Flüstern, Sprechen und Singen, die Schalmei ohne Mundstück und das Akkordeon teils mit Fingernägelspiel sowie mit tonlosem Gebrauch der Knöpfe. Gegen Ende finden alle drei zu stimmhaftem Zusammenspiel auf die Worte »nicht fisch und doch stumm, nicht blind und doch geschlossenen augs.« In einem weiteren Trio, Nr. 7, Die Ahne, mit der tieferen Schalmei-Variante Tenorpommer, generieren die Anfangsworte der Singstimme (»Leise. Ich bin gegangen. Ich habe gehorcht«) die Einsätze der Instrumente, die auf die Gesangslinie reagieren. Im Schlussstück Nr. 9 Sanftes Mädchenlied 2: Ich bleibe zurück kommt die menschliche Stimme schließlich zu sich selbst, die Instrumente verstärken nur einige Töne des Gesangs.
Eckhard Weber