Deutsche Uraufführung, Uraufführung der neuen Fassung (2023)
Das Stück Memory Code ist ein Versuch, Fragmente aus Erinnerungen an das 20. Jahrhundert aufzuzeichnen und zu verarbeiten, Erinnerungen sowohl in persönlichen als auch in globalen Kontexten, aus verschiedenen Bereichen, kulturell, sozial, politisch und technologisch. Der Dialog zwischen kollektiven und persönlichen Erinnerungen und die damit verbundenen Ereignisse bestimmen Struktur und Dramaturgie von Memory Code. Dem gesamten Orchestergewebe steht als weitere Schicht ein elektronisches Zuspiel gegenüber, das parallel dazu abläuft. Dieses Zuspiel verbindet sich zusammen mit der Musik des Orchesters zu einem komplexen homogenen Klangfarben-Musik-Dramaturgie-Komplex.
Ein charakteristischer Zug des „musikalischen Gedächtnisses“ in Memory Code ist ein Zustand völliger Aufhebung, ein Zustand unterbrochener Erinnerung. Deshalb erleben wir im Stück den konsequenten Rückzug der üblichen Klangproduktion der Streicher: Wir hören eine sich wiederholende Kompression des Klangs, erzeugt durch spezifische Spieltechniken der Streicher, die sich auf diese Weise in einem Geräuschraum, gewissermaßen wie „am Rande“ befinden. Dies wird vom Schlagzeug fortgesetzt und gegen Ende vom gesamten Orchester.
Im Zuspiel dagegen klingen Ereignisse der künstlerischen und musikalischen Produktion aus dem 20. Jahrhundert an. Sie durchdringen das gesamte Stück und prägen in der Synthese die komplexe Dramaturgie des Stücks. Gemeinsam mit musikdramaturgischen Vorstellungen von Klängen „am Rande“ und einer „totalen Aufhebung“ ergibt sich ein neuartiges, vielgestaltiges Material.
Es ist wichtig zu erwähnen, dass das Stück für ein Orchester aus lauter Solisten gedacht ist. Es war mir wichtig, Memory Code als ein einheitliches Ganzes aus den Mikropartikeln des Stückes zu schaffen.
Alexandra Filonenko
Alexandra Filonenko, um welche Erinnerungen geht es in Memory Code?
Es handelt sich um Erinnerungen aus dem 20. Jahrhundert. Das ist das Jahrhundert, das mich besonders interessiert. Eine große Bedeutung haben in Memory Code Erinnerungen an die Kriege des 20. Jahrhunderts. Wer hätte vor zehn Jahren überhaupt gedacht, dass dieses Thema in Europa heute wieder so aktuell würde? Das Thema Krieg habe ich auch in weiteren Stücken aus der letzten Zeit behandelt, etwa MIT SICHEL AUF HAMMER (2023) für Klavier solo und СВЕЧЕНИЕ/Glühen (2023) für großes Ensemble.
Was waren Ihre Ausgangsideen für Memory Code?
Am Anfang stand der Gedanke, Impulse aus unserer Erinnerung zu fixieren, sowohl von heute als auch aus Schichten unserer Geschichte, fast wie eine Dokumentation von Ereignissen aus dem 20. Jahrhundert. Außerdem wollte ich meine ursprüngliche Idee, die mit einer Art interdisziplinärem, also synthetischem Theater zusammenhängen, hier sozusagen mit einem synthetischen musikalischen Stoff im Orchester als Makroorganismus verwirklichen. Ich wusste von Anfang an, dass das Stück mit Elektronik sein wird. Das elektronische Zuspiel tritt wie ein Souffleur oder ein Stichwortgeber in einen Dialog mit dem Orchester.
Was ist für Sie charakteristisch für die Musik von Memory Code?
Ich finde, das Stück ist sehr typisch für mich, besonders hinsichtlich der Streicher: Alle Streicher sind Solostimmen, das gesamte Material, der Kern des Klangkörpers, stellt eine Wanderung zwischen gespaltenen, gesplitterten Tönen dar, meistens geräuschhaft. Doch genau dies lässt einen reinen neuen Ton entstehen. Die Partien für die Streicher sind sehr virtuos, das ist charakteristisch für die meisten meiner Stücke, in denen alle Streicher divisi geschrieben sind, also in durchgehend aufgeteilten Stimmen, jeder Streicher ist somit ein Solist. Gemeinsam ergibt diese Streichergruppe einen Makroorganismus als Teil des Orchesters. Dies gilt auch für das Schlagzeug, das ich für mich ganz neu eingesetzt habe: Ich wollte einen neuartigen Gesang im Schlagzeug erzeugen, die Schlagzeuger spielen in Memory Code zumeist arco, sie streichen mit Kontrabassbögen, und mit einem Superball, einem extrem elastischen Ball, der zum Beispiel am Gong und am Tamtam gerieben wird. Das erzeugt zauberhafte düstere Klänge, wie eine Art Gesang. Auf diese Weise ergibt sich auch eine klangliche Brücke zu den erweiterten Spieltechniken im Inneren des Klaviers. Die Bläser sind dagegen eher orchestral gesetzt, sie treten mehr oder weniger als harmonischer Block auf.
Ihr Stück wurde in der ersten Fassung 2021 von einem Jugendorchester in Moskau uraufgeführt, jetzt, bei Ultraschall Berlin 2024, wird es vom DSO, also einem Berufsorchester, von Erwachsenen, gespielt.
Ich war, als das Werk 2021 uraufgeführt wurde, positiv überrascht, dass solch junge Musiker es geschafft haben, so ein schweres Werk zu spielen. Es war für die meisten von ihnen überhaupt der erste Versuch, so eine Art von Musik einzustudieren. Bei der ersten Probe merkte ich, dass sie in ihrer Praxis viele Klänge und Spielweisen noch nie kennengelernt hatten. Deshalb musste ich ihnen damals zeigen, was ich in der Partitur meine, was meine Ästhetik ist und welche Spieltechniken nötig sind. Da ich seit einigen Jahren meine eigene Notation entwerfe und auch eigene Spieltechniken und Spielarten, fühle ich mich ein bisschen wie eine Pionierin in einigen dieser Sachen . Jetzt, bei Ultraschall Berlin, gehen die Profis ans Werk. Ich hoffe, die Partitur ist für sie nicht zu erschreckend . Aber sie haben ja eine lange Erfahrung mit zeitgenössischer Musik. Für mich ist Memory Code auf jeden Fall ein sehr wichtiges Stück, deswegen freue ich mich sehr, dass es jetzt endlich in Berlin aufgeführt wird.
(Interview: Ecki Ramón Weber)