Am Samstagabend führt der Komponist Nikolaus Brass (65) sein Musiktheaterstück Sommertag in Berlin auf. Und während draußen die Menschen verzweifelt versuchen, noch eine letzte Karte zu bekommen, wird das Publikum drinnen im Saal nicht nur von vielfältigen Effekten überrascht, sondern auch zum Nachdenken gebracht
Alles ist dunkel. Nur ein Satz leuchtet in weißen Buchstaben an allen Seiten des Raumes: „Willst du gehen?“ Dann durchbrechen Worte die Stille. Es ist die Stimme einer Frau. Sie singt und schweigt und schreit. Dann wirft sie ihre Schuhe in die Zuschauerreihen. Doch noch sind die Stühle leer. Nur auf einigen steht eine Tasche, manchmal liegt auch eine Jacke über der Lehne. Diese Sachen gehören den Neuen Vocalsolisten Stuttgart. Sie proben im Berliner Kulturzentrum Radialsystem V das Musiktheaterstück Sommertag.
Während der Probe gibt es nur wenige Requisiten, doch auch später im Stück soll das nicht anders sein. Denn dadurch sei alles freier und improvisierter, auch die Einsätze. „Das Stichwort ist oft ein Instrument, ein einzelner Ton. Oft sind wir aber auch frei im Timing. Das klappt dann mal besser, mal schlechter“, sagt Susanne Leitz-Lorey. Sie spielt die Freundin der Hauptperson.
In der Geschichte wartet eine Frau auf ihren Mann Asle, der vor langer Zeit auf das Meer hinausgefahren und spurlos verschwunden ist. In Rückblenden erinnert sie sich an diesen Tag, den Besuch ihrer Freundin, die Sprachlosigkeit in ihrer Beziehung, ihre Angst und ihr allmähliches Begreifen. „Ich finde, das ist eine Geschichte, die jedem passieren kann. Dass man sagt: Es gab eine Phase in meinem Leben, es gab Ereignisse, über die ich keine Macht habe. Aber in dem Moment, in dem man das Vergangene akzeptiert, kann man vielleicht etwas befreiter weiterleben“, sagt Nikolaus Brass. Der 65-jährige Münchner ist der Komponist des Stückes. Er hat die Textvorlage von Jon Fosse in Musik übersetzt und so zum Leben erweckt.
Um 21 Uhr beginnt die Vorstellung und inzwischen füllt sich der Saal mit Menschen. Schließlich sind alle Stühle besetzt. Bis auf einen. Niemand weiß, wer ihn reserviert hat, nur, dass sich niemand auf ihn setzen darf. Später im Stück wird deutlich, warum: Eine Schauspielerin setzt sich auf den leeren Stuhl, als sie gerade nicht mitspielt. „Aber ich bin trotzdem in meiner Rolle drin, denn man weiß nie, ob nicht jemand hinguckt, wenn man im Dunkeln sitzt.“
Die Stühle im Zuschauerraum sind in vier Blöcke aufgeteilt. Rings um die Zuschauer herum sitzen einzelne Musiker mit ihren Instrumenten: hier ein Kontrabass, dort eine Violine, eine Klarinette, ein Akkordeon. Die Instrumente stehen für die Seelenanteile der Figuren. Die ältere Frau wird zum Beispiel durch den Kontrabass unterstützt und Asle durch das Akkordeon, das die Sehnsucht zum Meer ausdrücken soll.
Das Stück spielt sich größtenteils im Inneren eines Menschen ab und das spiegelt auch die Saalaufteilung wider: Es gibt keine Bühne, die Zuschauer sind mittendrin in der Geschichte. Vor, hinter, um das Publikum herum tanzen blaue Strudel über die Wände. Ist es Wasser? Sind es Tränen? Eine Uhr verdeutlicht die endlose Zeit der Ungewissheit. Dann wieder ein paar Worte, die sich nach und nach zu einem Satz zusammensetzen. „Es gibt nur Fosse-Text”, sagt Nikolaus Brass, “ich habe nichts dazu erfunden, nur viel weg gelassen. Er ist die vierte Ebene: Das heißt, der Text ist in den Figuren, aber auch um die Figuren herum. Das kennt man ja auch, wenn man sich Sorgen macht, dann wird plötzlich ein Satz ganz deutlich und gewinnt an Bedeutung“, so der Komponist.
Doch nicht alle Sätze und Charaktere sind eindeutig zu verstehen. Und das ist auch so gewollt. Es gibt eine Figur, die die meisten Zuschauer verwundert. Es ist ein glatzköpfiger Mann, der barfuß durch den Raum läuft und im gesamten Verlauf kein einziges Wort sagt. Doch und vielleicht gerade deshalb, scheint er der interessanteste Charakter des Stückes zu sein. Denn je länger man über die Figur des „Anderen“ nachdenkt, desto faszinierender wird sie. Der Schauspieler Andreas Fischer versucht, seine Rolle in Worte zu fassen: „Man fragt sich ja: Was macht der Asle? Flieht er, macht er Selbstmord? Ist er tot? Ich denke, ich verkörpere sowohl die Freiheit, als auch den Tod.“ Und Nikolaus Brass ergänzt: „Den habe ich dazu erfunden. Ich dachte, da gibt es noch eine Dimension, da ist noch irgendetwas anderes. Ein Sog, eine Kraft, die von diesem Asle Besitz ergreift. Die möchte ich darstellen.“
Und ebenso wieder der „Andere“ von Asle Besitz ergreift, ergreift auch das Stück Besitz von den Zuschauern und wird sie so schnell nicht mehr loslassen. Es regt zum Nachdenken an, einzelne Worte bleiben im Gedächtnis. Und inzwischen sind die Stühle wieder leer, nur ein Satz ist deutlich an der Wand zu lesen: „So ein schöner Sommertag.“
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