Olga Neuwirth: QUASARE / PULSARE für Violine und Klavier (1995/96)
“Ich möchte niemandem eine Belehrung vorsetzen, sondern Gedanken an das Schmerzliche und Zarte, das um die Welt liegt, das öffentlich Zweideutige und menschlich Vergebliche, das sie umgibt, durch Musik vermitteln. Ich weiß, dass man mit Kunst nichts ändern kann, aber Kunst kann Erstarrtes aufzeigen und den desolaten Zustand von Gesellschaft und Politik sichtbar machen.” Dieses Selbstverständnis als Komponistin hat Olga Neuwirth im Jahr 2000 formuliert. Ihre Musik will aus der Lethargie und aus der Dumpfheit des Konsumautomatismus reißen. Dieses Ziel verfolgt Neuwirth durch immer wieder überraschende Strategien genüsslich eingesetzter Irritationen. Scharfsinnig durchkreuzt sie liebgewonnene Hörerwartungen und Genretraditionen.
Ihre Kammermusik ist voller überraschender Manipulationen von Klängen. Setzt sie Streicher ein, so verändert sie gerne die herkömmliche Stimmung, was zu mikrotonalen Einfärbungen und völlig veränderten Obertonverhältnissen führt, etwa in ihrem Werk …?risonanze!… für Viola d’amore (1996–97). Ein Klavier lässt sich naturgemäß in der Stimmung nicht so flexibel beeinflusssen. Doch in ihrem Duowerk QUASARE / PULSARE hat Neuwirth auch dafür einen Weg gefunden: Um beim Tasteninstrument neue Klangverhältnisse zu erreichen, setzt sie auf die Tradition des präparierten Klaviers. Sie nutzt diese nicht nur, um die Klangfarbe zu beeinflussen, sondern um die Stimmung der Saiten zu ändern, das Klavier damit bewusst zu verstimmen. Dies gelingt ihr, indem Silikonbällchen und Schaumstoff an die Saiten angebracht werden. Während des Spiels wird nicht nur die Tastatur zur Klangerzeugung genutzt, sondern auch die übrigen Bauteile des Instruments. Außerdem wird ein e-Bow eingesetzt, der beim Einsatz an die Klaviersaiten zu Rückkoppelungen führt, eine Klangausweitung, die Neuwirth nur zu gerne in das in neue Bereiche vordringende Zusammenspiel von Klavier und Violine integriert.
Johannes Boris Borowski: Klaviertrio (2013. DEA)
Johannes Boris Borowski, Klaviertrio, geschrieben in Paris, April bis Juni 2013:
[Allgemeine] Gedanken:
Trotz großformaler Strategien, Referenzpunkte, Vernetzungen, globaleren Prozessen etc. bleiben die Arbeit am Detail und das spontane Entdecken von neuen Momenten inklusive neuer formaler Möglichkeiten die wichtigsten Momente beim Komponieren. Versuch, die Offenheit gegenüber dem Moment zu bewahren und trotzdem eine nachvollziehbare und vor allem interessante, spannende Form zu finden.
“Tagebuchform”: Ein Tagebuch bezieht sich auch immer wieder auf einen “durchgehenden” Kontext; es verweist also auf eine relative stabile, nachvollziehbare Form, einen nachvollziehbaren Zeitablauf – und entzieht sich diesem gleichzeitig. Ich kann heute noch nicht wissen, was ich morgen schreibe – meine Möglichkeiten sind ab er begrenzt – ich kann nicht ständig Neues erfinden (im Sinne von neuem Material) sondern: das Neue entwickelt sich aus einem Material heraus. Natürlich ist nicht jedes Material gleich geeignet, die Materialfrage also nicht beliebig, das Interesse an der Komposition wird aber nicht durch das Material in erster Linie gesteuert.
Dramaturgische Gedanken:
Verbindung zwischen 2 Hauptteilen: Glissando Violoncello (T. 124): Glissando als Material herausgelöst und als solches gezeigt, isoliert. In anderen Teilen gibt es Glissando-Elemente, aber integriert, sie »dienen« dem Ausdruck, sie zeigen etwas von der Struktur. Im Gegensatz dazu ist das »herausgelöste« Glissando selbst Struktur, Teil der Großform, und wird als solches gezeigt – es ist nicht mehr aktiv an der Formentstehung und Forminterpretation beteiligt, sondern passiv quasi von außen gesetzt. Es bietet die Möglichkeit, aus der Form herauszutreten. Der Hörer ist nicht mehr gezwungen zu verstehen, zu verfolgen, zu erinnern, vorauszudenken … in einem gewissen Rahmen weiß er, was passieren wird: ein statisches Element, die Bewegung ist linear und gleich bleibend, es gibt keine Überraschungen. Die Überraschung ist allein das Glissando selbst, als großformales Element. Innerhalb dieses Elements kann man nun als Hörer frei sein: zu “springen”, sich zu erholen, “eine Pause zu machen”. Ich weiß vielleicht in diesem Moment mehr über das Stück, als das Stück über sich selbst zu wissen scheint. Ein Moment der Sicherheit.
(Boris Borowski)
Philipp Maintz: tourbillon. Musik für Violine, Violoncello und Klavier (2008)
Die Werke von Philipp Maintz basieren auf minutiös ausgearbeiteter, ausdifferenzierter Durchorganisation: Zunächst skizziert er seine Kompositionsideen ganz traditionell per Hand, um sie anschließend am Computer komplexen Rechenprozessen zu unterwerfen. Die formale, rhythmische, harmonische und melodische Gestalt seiner Musik wird oft von systematisch angewandten Algorithmen und Fraktalen bestimmt. Doch dann durchkreuzt Philipp Maintz jedes Mal mit voller Absicht und Lust das Ergebnis: “Ich gehe von Regeln aus, die ich selbst aufstelle und anwende. Beim Überprüfen des Ergebnisses greife ich überall dort ein, wo mir etwas nicht gefällt, ich ‘entregle’ dann, streiche, verändere so, wie es mir instinktiv richtig erscheint. Vielleicht stoße ich dabei auf Lücken oder Schwächen im Konzept. Dann muss ich die Regeln differenzieren.”, hat er einmal in einem Interview erklärt. Seine Musik bezeichnet er als “eine gewisse Balance aus seriellem Denken, Wildwuchs, Kalkül und intuitiver Entscheidung”. Der von Maintz als “Entregeln” bezeichnete Vorgang des bewusst nach subjektivem Ermessen geleiteten Eingriffs verbirgt sich im Titel seines Klaviertrios tourbillon. Mit tourbillon, dem französischen Wort für “Wirbelwind”, wird in der Uhrmacherkunst eine technische Vorrichtung bezeichnet. Bei Taschenuhren, die gewöhnlich in einer Lage getragen werden, soll das Tourbillon die durch die Schwerkraft bedingten Fehler in der Ganggenauigkeit des Uhrwerks ausgleichen. Philipp Maintz manipuliert mit seinen intuitiven Eingriffen wiederum die Schwerkraft des festgezurrten Systems in seinen Kompositionen.
Sein Werk tourbillon, das er einmal als “spielfreudige Musik” bezeichnet hat, “die elegante Pirouetten dreht, mal gläsern, mal mit Biss um sich selber herum tänzelt”, und von der er sagt, sie sei “ein wilder und zugleich eleganter Tanz auf einem straff gespannten Drahtseil”, wirkt trotz ihrer Vielgestaltigkeit im Einzelnen insgesamt bestechend kompakt und kohärent. Violine, Violoncello und Klavier beziehen sich in ihren Motiven, in ihren rhythmischen Gesten, und ihrer Artikulation geradezu intim aufeinander.
Marko Nikodijevic: sadness/untitled für Klavier (2000)
Strukturelle Dichte, Kohärenz und gleichzeitig eine ungemeine Klangsinnlichkeit; diese Züge zeichnen die Werke von Marko Nikodijevic aus. Er selbst charakterisiert seine Musiksprache als “ein Equilibrium aus strengem strukturellem Design und einer unverwechselbaren akustischen Aura”. Das im Jahr 2000 im Clark Studio Theatre, einer kleinen Bühne im New Yorker Lincoln Center, uraufgeführte Klavierstück stellt Nikodijevics ersten Versuch dar, mit fraktalen Wiederholungsschleifen zu komponieren. Damals studierte Nikodijevic noch an der Universität der Künste in Belgrad und besuchte zudem Kurse in Physik und Mathematik. “Das war mein erster Schritt in diese Richtung und wurde in den folgenden Jahren eine der meistverwendeten Kompositionstechniken in meiner Musik.”, kommentiert der Komponist sein Werk. Insofern ist dieses kurze Klavierstück exemplarisch für das Schaffen von Nikodijevic, der zudem mit Chaostheorie, Algorithmen, instrumentaler und digitaler Klangsynthese sowie in den letzten Jahren auch vermehrt mit Einflüssen des DJing und der Electronica in seiner Musik arbeitet.
Als Motto hat Nikodijevic sadness/untitled einen Vers von Oscar Wilde beigegeben, “Each man kills the thing he loves”, ein Zitat aus dessen Ballade vom Zuchthaus zu Reading. Mit Wilde hat sich Nikodijevic zur Zeit der Entstehung von sadness/untitled intensiv beschäftigt. Die in serbischer Sprache formulierte Widmung des Stücks lautet auf Deutsch: “Für Uroš, für alles, was er mir gab, und das ich ihm nicht zurückgeben konnte.” Ein so konsequenter wie klar durchdachter Prozess im Strukturellen trifft auf die Kraft unmittelbarer Subjektivität bei Nikodijevic.
David Philip Hefti: Lichter Hall. Trio Nr. 2 für Violine, Violoncello und Klavier (2012)
“Mein zweites Klaviertrio Lichter Hall entstand 2012 im Auftrag des medeA trios, das die Komposition am 16. Oktober 2012 in der Wigmore Hall in London zur Uraufführung brachte. Nach meinem ausgedehnten und mehrsätzigen ersten Klaviertrio Schattenspie(ge)l aus dem Jahr 2006 habe ich mein zweites Trio als kompaktes, einsätziges und helles Gegenstück dazu konzipiert. Verschiedene Impulse ziehen Ruhepunkte – gleichsam als Echo – nach sich und entwickeln sich stetig vom anfänglichen Stocken zur fließenden Bewegung. Die anschließende cantabile-Passage, die aus meinem Orchesterwerk Moments lucides als Nachhall anklingt, löst sich in einen schattenhaften Schluss auf.”
Dies schreibt David Philip Hefti über seine Komposition Lichter Hall. Die Ausführungen sind aufschlussreich, weil sie ein Schlaglicht auf das künstlerische Denken von Hefti werfen. Da wäre zunächst die Metaphorik von Licht und Dunkelheit, die sich in seiner Musik sinnlich vermittelt. Auch die Beschreibung des geradezu organischen Anwachsens in der Struktur und deren inhärente Gefährdung und Unterbrechung ist charakteristisch. Hefti erwähnt außerdem, dass Lichter Hall Bezüge zu anderen Werken habe. Seine Kompositionen stehen in einem Beziehungsgeflecht, das sein gesamtes Schaffen als riesiges Work in Progress erscheinen lässt. Die einzelnen Stücke weisen über sich hinaus und ergänzen sich gegenseitig: Lichter Hall verhält sich zum knapp halbstündigen, viersätzigen Trio-Werk Schattenspie(ge)l, das sechs Jahre früher entstanden ist, wie ein leichtes Intermezzo zur großen Tragödie im Theater. Der erwähnte Bezug als Nachhall auf sein Orchesterwerk Moments lucides, wie Lichter Hall 2012 komponiert, zieht noch weitere Kreise, weil Hefti Moments lucides wiederum als »Gegenstück bzw. als Ergänzung«, so der Komponist, zum “Stimmungsbild für Orchester” Changements (2011) versteht. Diese Sicht des eigenen Schaffens zeugt von einem langen Atem und ist eine bemerkenswerte Gegenposition in einer Zeit, die vorwiegend von multimedialer Kurzlebigkeit geprägt ist.
Bernd Alois Zimmermann: Présence. Ballet blanc für Violine, Violoncello und Klavier (1961)
I) Introduction et pas d’action (Don Quichotte)
II) Pas de deux (Don Quichotte et Ubu)
III) Solo (Pas d’Ubu)
IV) Pas de deux (Molly Bloom et Don Quichotte)
V) Pas d’action et finale (Molly Bloom)
Présence, von Bernd Alois Zimmermann als Ballet blanc bezeichnet, also als Ballett in der klassischen Tradition ohne Handlung mit Ballerinas im weißen Tutu, wurde zunächst 1961 bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt konzertant uraufgeführt. Erst 1968 kam das Werk in einer Choreografie von John Cranko bei den Schwetzinger Festspielen auf die Bühne. Zimmermann assoziiert in Présence die Instrumente des Streichtrios mit Figuren aus der Weltliteratur: Die Violine ist mit Don Quijote verbunden, das Cello mit Molly Bloom aus Ulysses von James Joyce und das Klavier mit König Ubu, dem Protagonisten des gleichnamigen Theaterstücks von Alfred Jarry. Die drei literarischen Figuren sind für Zimmermann Prototypen der conditio humana: Don Quijote repräsentiert den Idealismus und das Tragische, Molly Bloom steht für das Verlangen nach Liebe und für das Empfangen im Sinne der Gaia-Tellus, der Mutter Erde, und König Ubu ist die Karikatur eines Tyrannen. In jeder der fünf Szenen von Présence stellt Zimmermann die Charaktere/Instrumente in eine neue Beziehung. Er betonte jedoch, dass die Instrumente nicht die literarischen Personen repräsentieren, sondern auf die Einheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verweisen. Im Sinne einer solchen “pluralistischen Komposition” können auch die musikalischen Zitate in Présence verstanden werden: Zimmermann zitiert zwei Themen aus der Sinfonischen Dichtung Don Quixote (1898) op. 35 von Richard Strauss, einige Takte aus dem Andante caloroso der Klaviersonate Nr. 7 B-Dur, op. 83 von Sergej Prokofjew und einen Abschnitt aus Zeitmaße von Karlheinz Stockhausen. Ein Sprecher (“speaker”) soll als weitere Bedeutungsebene nach der Konzeption Zimmermanns vor jeder Szene “Wortembleme” aus dem Gedicht Wurzelwerk von Paul Pörtner rezitieren. In der Ballettfassung von John Cranko wurden jedoch stattdesssen pantomimische Szenen eingeschoben.
“Présence: das ist die dünne Eisschicht, auf der der Fuß eben nur so lange verweilen kann, bis sie einbricht; aber während der Fuß noch für den Bruchteil einer Sekunde auszuruhen vermeint, bricht sie schon, die dünne Decke und zurück bleibt die Gewissheit des Packeises; voraus der Blick in die Zukunft mit der Gewissheit der immer wieder neu begonnenen Gegenwart des Splitterns der Eisschicht und die Absurdität, die in dem ständig unternommenen Versuch liegt, Fuß zu fassen. So erscheint Présence als jene Gegenwart, die Vergangenheit und Zukunft miteinander verbindet.”
Bernd Alois Zimmermann: Werkeinführung “Présence”, in: Intervall und Zeit (1974)
“Das Ballett der Zukunft wird ein sehr komplexes sein. Alle Elemente des Bewegungstheaters, wohinein auch der Film, das Geräusch, die Sprache, die elektronische Musik zu delegieren sind, müssen zu einem Groß-Raum-Zeit-Gefüge mobilisiert werden, dessen Ordnung die Musik als allgemeinste Form zeitlicher Ordnung überhaupt konstituiert. Das ist nur möglich mit einer Kompositionsmethode, die in pluralistischer Weise alle Dimensionen des Bewegungstheaters miteinander organisch zu verbinden vermag.
Wesentliche Forderungen dieser Art habe ich in meinem 1961 komponierten Ballett Présence gestellt. Dass sie erst sieben Jahre später ihre Erfüllung fanden, mag zeigen, dass sich jetzt erst der Blick der Choreographen auf die neuen Dimensionen einstellt, die das Ballett der Zukunft enthält. Der Ausdrucksbereich des Balletts wird dadurch entschieden vergrößert und damit eine theatralische Dimension gewonnen, die nichtsdestoweniger nur dem Ballett möglich ist.
So hat [John] Cranko in der Choreographie von Présence für die von mir geforderten Gesten des Don Quichotte (Violine), Ubu Roi (Klavier) und Molly Bloom (Violoncello) tänzerische Konfigurationen gefunden, die dadurch gekennzeichnet sind, dass eine elementare gegenseitige Durchdringung von Ballett- und Musikstrukturen stattfindet, jenseits einer literarischen oder außermusikalischen Ambition. Keine andere Kunstgattung vermöchte eindringlichere Bilder von derartig archetypischer Bedeutung vorzustellen.”
Bernd Alois Zimmermann: Über die Zukunft des Balletts (1968)
“Die Instrumente, wiewohl den ‘Personen der Handlung’ zugeordnet, stellen sie nicht dar; vielmehr enthüllen sie die tiefer liegende Einheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in der fast bis zur Farce vorgetriebenen Kontradiktion, welche sich in der scheinbaren und effektiven Widersprüchlichkeit der Wortembleme und heraldischen Tafeln mit dem musikalischen Geschehen offenbart, welches der Idee des pluralistischen Klanges zugeordnet ist.
Vor allem der instrumentale Aspekt, von der trivialen Banalität des tausendmal Gesagten bis zur völlig neuen Sicht des Instruments reichend, tritt in dieser Komposition hervor, in welcher der Versuch unternommen wird, die szenische Aktion in eine sich gegenseitig bedingende Opposition zum Instrumentalen zu bringen und dadurch als ein szenisches Ganzes in einem neuen Sinne zu entwickeln, Imagination und Abbreviatur im Szenischen setzen die Funktion dessen voraus, ohne die Kunst nicht realisiert werden kann: die Phantasie, nicht zuletzt die, an deren Adresse der Komponist sich wendet: des Publikums.”
Bernd Alois Zimmermann: Werkeinführung “Présence”, in: Intervall und Zeit, (1974)
Eckhard Weber