Kunst, Erkenntnis und das “norwegische Totenlächeln”
Experimentelles und Exzentrisches mit asamisimasa
Im Ensemblebetrieb der zeitgenössischen Musik besetzt asamisimasa – nicht nur geographisch bedingt – eine Randposition. Die 2001 in Oslo gegründete Formation erinnert in ihrer Besetzung eher an eine Band, als an die inzwischen klassische Ensemblekonstellation aus Holzbläsern, Klavier und Schlagzeug um ein zentrales Streichquartett. Auch die Komponisten, die für asamisimasa arbeiten, arbeiten häufig an den offenen Grenzen zwischen Popularmusik und Hochkultur. Dabei verlangen sie von den Musikern eine hohe Bereitschaft zum Experiment und Offenheit für performative Konzepte.
Auf Repertoirewerke können die sechs norwegischen Musiker ohnehin nur in Ausnahmefällen zurückgreifen. Die Regel sind Auftragskompositionen, die im Laufe der zwölf Jahre speziell für die Besetzung von asamisimasa entstanden sind. Eine enge Beziehung verbindet das Ensemble mit den Norwegern Lars Petter Hagen, Øyvind Torvund und Trond Reinholdtsen, die auf die Frage nach der Zukunft der Musik höchst eigenwillige und teils radikale Antworten liefern.
Martin Schüttler Selbstversuch, die Andern
Im Zentrum von Selbstversuch, die Andern steht die Frage, wie sich eine körperliche Bewegung in Musik übertragen lässt. Um diese Frage zu beantworten, führte Martin Schüttler vorab ein Experiment durch, bei dem er selbst die Hauptrolle spielt.
Schauplatz war sein Berliner Arbeitszimmer, das er zu diesem Zweck mit allem verfügbaren, mobilen Hausrat in einen Ort verwandelte, in dem er sich nur mit Mühe bewegen konnte. An verschiedenen Orten brachte er sieben Schalter an und spielte dann – mit fast schmerzhafter Lautstärke – die für das Stück vorgesehenen Klangmaterialien ein. Mit den Schaltern lässt sich jeweils eine der Klangebenen für kurze Zeit stumm stellen. Martin Schüttlers selbst gesetztes, aber unerreichbares Ziel war es, im Raum für Ruhe zu sorgen. Die Aktion nahm er auf und leitete daraus die Rhythmen und Strukturen des Stücks ab. Vor allem im Mittelteil sind die hektischen Bewegungen des Körpers, das Rumpeln, Laufen, Stoßen, Schieben, Kriechen und Umdrehen auf engem Raum in elektronischen und instrumentalen Gesten geradezu plastisch abgebildet. Eine Notsituation, die auch von einer hohen Frauenstimme begleitet wird, deren aufwärts gezogene Glissandi phasenweise in den Alarmton einer Sirene umschlagen. Wie einige der Instrumentalisten wird auch die – als Sample zugespielte – Sopranstimme mit einem Kehlkopfmikrofon transformiert. Martin Schüttler setzt oft auf einfache, billige Elektronik, weshalb seine Klangoberflächen bisweilen an den schrillen Sound einer schlecht ausgesteuerten Popband erinnern. Das mitkomponierte Feedback, das hier zwischen Kehlkopf- und Kontaktmikrofonen entsteht, ist als Störgeräusch ebenfalls Teil der Lo-Fi-Ästhetik. Auch die Texte sind keineswegs literarischen Ursprungs, sie folgen jedoch – ebenso wie das musikalische Material – einem formalen Konzept. Die Fragmente stammen aus Pressekonferenzen zu neuen Zombiefilmen, wobei die nüchternen Präsentationen einen starken Kontrast zum splatterigen Gegenstand schaffen Textkonzept und Auswahl des Materials sind in Zusammenarbeit mit der Schriftstellerin Mara Genschel entstanden.
Lars Petter Hagen seven studies in self-imposed tristesse
Mehr als reduziert, geradezu karg ist das Material, das der Norweger Lars Petter Hagen für seine “Sieben Übungen in selbst verordneter Tristesse” wählt. Sinustöne, Rauschen, Glockenschläge oder auch der schummerige Klang einer gestrichenen Metallplatte erklingen in dieser Vierkanalkomposition immer im Rohzustand. Die Übungen sind daher auch eine Studie in Enthaltsamkeit. Das Material verändert und entwickelt sich nicht, elegante oder raffinierte Effekte wird man hier – ebenso wie Entwicklungen oder dramatische Kontraste – vergeblich suchen. Das Resultat dieser asketischen Übungen sind Zustände traurig-schöner Erstarrungen, wie sie der Komponist Lars Petter Hagen auch in anderen Werken beschwört. Hagen zitiert in diesem Zusammenhang gern den Schriftsteller Tor Ulven, der den Ausdruck des »norwegischen Totenlächelns« geprägt hat: ein unbewegliches, letztes Lächeln, mit dem der Künstler das Ende der Kunst und des Lebens quittiert. Obwohl sich Lars Petter Hagen häufig in historischen Idiomen verfängt und demonstrativ dort verharrt, ist seine Musik nicht Ausdruck nostalgischer Gefühle. Im Gegenteil: in ihr offenbart sich eine grundsätzliche Ratlosigkeit, die Hagen als das Lebensgefühl seiner Generation beschreibt.
seven studies in self-imposed tristesse gehören in eine Werkreihe, in denen sich der Komponist und Festivalleiter mit dem Vermächtnis seiner norwegischen Vaterfiguren auseinandersetzt. Hier ist es die problematische Schönheit der Musik des Nationalisten Geir Tveitt, dessen Manuskripte bei einem Brand zum großen Teil vernichtet wurden. Lars Petter Hagen nutzt die verkohlten Fragmente als Formschablonen, deren Stimmverläufe er lediglich mit neuem Material besetzt. Er komponiert gewissermaßen in den Fußstapfen des Älteren. Mit musikalischem Fortschritt und der Suche nach Neuem hat all das nicht im Geringsten zu tun. Die selbst verordnete Tristesse bezieht sich nicht nur auf die Trauer über eine verlorene Musik oder den Umgang mit problematischen Vaterfiguren – in ihr äußert sich vielmehr das Bewusstsein, das Ende einer Zeit zu erleben, ohne das Manifest für eine zukünftige Musik in der Tasche zu wissen.
Max Wainwright Radio 1
Das Instrumentarium von Radio 1 besteht aus Radiosendern, -empfängern, Mikrofonen und Lautsprechern. Drei der sechs Musiker bedienen je einen Radiosender, der mit einem Mikrofon verbunden ist, die andern drei Spieler arbeiten mit Radioempfängern und tragbaren Lautsprechern. Max Wainwright verwendet technische Geräte, die seit der Erfindung des Rundfunks zur Verfügung stehen. Allerdings sind die Sender und Empfänger von Schallwellen heute auch in Mobiltelefonen und kabellosen Computernetzwerken allgegenwärtig, also keineswegs historisch. Die Idee des Netzwerks liegt auch Radio 1 zu Grunde, indem sich die Performer durch die Bewegungen ihrer Geräte im Raum gegenseitig beeinflussen und Klänge produzieren, ohne dass dem Schaltkreis ein explizit musikalisches Material zugeführt würde. Der Schall entsteht allein durch akustische Rückkopplungen, indem sich Sender und Empfänger in einer Endlosschleife aufnehmen und verstärken. Dabei spielt auch der verstärkte Raumklang eine große Rolle, sodass Radio 1 in jedem Saal eine andere Klangcharakteristik und Dynamik entwickelt. Der schwedische Klangkünstler arbeitet gegenwärtig an Live-Improvisationen mit elektronischen Feedback-Systemen und widmet sich Themen wie dem gezielten Missbrauch von Technik. In seinen Performances geht es um Chaos, Störgeräusche und – wie im Fall des Feedbacks – um Netzwerke und um das Spiel mit der Gefahr des Kontrollverlusts, der nicht nur das Gehör, sondern auch die technischen Geräte durch Überlastung zerstören würde. Damit setzt er eine Tradition fort, die in den Sechzigerjahren mit den Beatles, The Who, Jimi Hendrix, Steve Reich, David Tudor und John Cage ihren Anfang nahm. Es war John Cage, der 1963 bei einem Skandalauftritt in Berlin große Hoffnungen mit den ästhetischen Qualitäten der wie durch Geisterhand entstehenden Störgeräusche verband: “Wir sind jetzt ganz nahe einem Status des Wunders. Wir werden bald Mikrophone gebrauchen, um Dinge klingen zu hören, an die wir gewöhnlich nicht als etwas Klingendes denken …”
Bjørn Fongaard Galaxy op. 46 Version für E-Gitarre und Zuspiel
Schon zu seinen Lebzeiten war der norwegische Komponist und Gitarrist Bjørn Fongaard kaum mehr als eine Randfigur der internationalen Musikszene. Nach seinem Tod im Jahr 1980 gerieten seine Werke fast vollständig in Vergessenheit. Erst jetzt erwacht das Interesse der jüngeren, vor allem norwegischen, Generation am Vermächtnis des Einzelgängers, der die wilden Unternehmungen der Sechzigerjahre vom nördlichen Rand Europas aus mitverfolgte und zeitgleich – ohne nennenswertes Aufsehen zu erregen – seine eigenen Experimente mit mikrotonalen Gitarren und Live-Elektronik anstellte. Obwohl Fongaard einem Brotberuf als Mathematiker nachging, hinterließ er ein großes Œuvre auch für klassische Besetzungen.
Galaxy entstand 1965, im selben Jahr, als die Oslo Philharmonic Society die Uraufführung seiner Orchesterkomposition Uranium 235 verweigerte und damit einen handfesten Skandal auslöste. Nach dieser enttäuschenden Erfahrung beschloss Fongaard, seine radikalen Ideen fortan selbst umzusetzen. Auf der ersten – und einzigen – Aufnahme seines Gitarrentrios Galaxy aus demselben Jahr hat der Komponist alle drei Parts im Alleingang eingespielt und abgemischt. Galaxy für drei mikrotonale E-Gitarren ist eines der bekanntesten Werke des Norwegers. Bjørn Fongaard präpariert die Instrumente und nutzt zahlreiche, teils von ihm selbst entwickelte, erweiterte Spieltechniken. Er schlägt, berührt, streicht und kratzt die Saiten mit verschiedenen Gegenständen und erzeugt eine große Palette von live-elektronischen Klängen, die sich mitunter weit vom vertrauten Idiom der E-Gitarre entfernen.
Er arbeitet mit grob strukturierten Rauschklängen, die vor allem zu Beginn an elektronische verzerrte Mühlsteine erinnern, andere Passagen exponieren schnell tremolierende Glissandobewegungen, Punktfolgen oder körnige Kratzgeräuschen. Zwischen die Passagen, die sich meist auf eine einzige Materialcharakteristik konzentrieren, setzt Fongaard harte Schnitte. Das Geschehen katapultiert er sprunghaft und launisch von einem Zustand in den nächsten. Diese Wildheit, aber auch die raue, oft rohe Klangoberfläche, die mit virtuosen, polyphonen Texturen wechselt, macht Galaxy zu einer nur schwer vorhersehbaren Komposition. Mögliche Interpreten stellt Galaxy zudem vor große Herausforderungen. Bjørn Fongaard hat die Partitur grafisch notiert und dabei auch die kleinsten Details optisch abgebildet und mit ausführlichen Spielanweisungen versehen. Die neue Version für E-Gitarre und Zuspiel von Anders Førisdal hält sich eng an diese Vorgaben. Die Aufnahmen für das Zuspiel sind, abgesehen von wenigen Geschwindigkeitsveränderungen, ohne zusätzliche elektronische Hilfsmittel entstanden, sodass Førisdal – wie Fongaard in der Ersteinspielung – im Trio nur seinen zugespielten Alter Egos begegnet.
Øyvind Torvund Plastic Wave
Es dauert eine Weile, bis sich hinter den rauschenden Wellenbewegungen einzelne instrumentale Identitäten abzeichnen. Der hin und her wogende Trommelwirbel verdeckt wie eine Hüllkurve alles, was sich darin verbirgt. Die erste Idee zu Plastic Wave war visuell und zugleich akustisch: das Bild einer Welle aus weißem Rauschen, die sich – wie in einem Comic – aus einem Beckenschlag löst. Zu Beginn des Stücks ist der initiale Beckenschlag nicht zu hören. Wie aus dem Nichts rollt die Welle heran, um wenig später in der Ferne zu verebben. Die im weißen Rauschen versteckten Stimmen werden fast vollständig verschluckt. Dass Plastic Wave eine Komposition für Klavier und Quartett und nicht etwa für die solistischen Hüllkurven der Snare Drum und versteckte Instrumente ist, offenbart sich erst später, wenn das Klavier die Wellenbewegungen aufgreift und die Geräuschwand durchbricht. Die Snare-Welle wird transparenter, aber auch schwächer und setzt zeitweise sogar ganz aus. Øyvind Torvund spielt mit ihren Erscheinungsformen, er variiert Dichte, Dauer, Struktur und Verlauf. Auch der Auslöser der plastisch ausgeformten Schallwelle – der Beckenschlag – wird zum Gegenstand der Betrachtung. Wie in Zeitlupe offenbart sich im explosiven Schlag die Struktur des Augenblicks, und auch im Inneren der nachfolgenden Welle offenbart sich ein immer reicheres und differenzierteres Leben, das sich aus unterschiedlichsten Materialien speist. Nicht nur in Bezug auf das eigene Instrument, sondern auch beim Spiel auf anderen Klangerzeugern verlangt Torvund von den Musikern ein hohes Maß an Flexibilität.
Vor allem aber konfrontiert er die Pianistin mit einem beinahe unspielbaren Part. Als Vorbilder nennt der Norweger die maschinell gedachten Partituren für Player Pianos von Conlon Nancarrow, aber auch das virtuose Klavierspiel Cecil Taylors. Diesen Solopart untermalt, kommentiert und überspitzt Torvund durch das Zuspiel konkreter Geräusche von Explosionen oder zerbrechendem Glas. Auch in dieser Hinsicht erweist sich Plastic Wave als ein akustischer Comic, in dem jedes Geräusch seine bildliche Entsprechung findet.
Trond Reinholdtsen Inferno
“Ich habe beschlossen, die Kunst zu verraten, um den Gipfel des Erkenntnis zu erreichen.”
Das Motto, das Trond Reinholdtsen seinem Musiktheater voranstellt und das im Verlauf der Performance auch als Sprachsample aus einer Trommel tönt, ist eines der vielen Indizien für den künstlerischen Größenwahn, den der Norweger zum Thema dieses ‘Opra’ erklärt. Seit 2009 hat sich Trond Reinholdtsen dem Gesamtkunstwerk verschrieben, oder – mit seinen Worten – der “Geburt des Opra durch die Krise der zeitgenössischen Musik”. Seit dem Präludium Fitzcarraldo sind insgesamt elf Produktionen über die Osloer Bühne gegangen, in denen die großen Sujets der menschlichen Existenz und damit auch die großen Fragen der Kunst verhandelt werden. Der Osloer Komponist und Gesamtkünstler brachte Orpheus, die Apokalypse, die Utopie, Faust und Narziss auf die Bühne, teils unter konsequenter Nichtbeachtung der Gattungskonventionen. Reinholdtsens Opras zeichnen sich durch einen eigenwilligen und meist betont ‘kunstlosen’ Einsatz des Materials aus. Mit Wagners Ring hat dieses Projekt vor allem den erklärten Willen des Autors gemein, die multimediale Leistung allein zu erbringen, nur dass der Norweger mit dem Meisterwerk hadert und seine Energie in die Inszenierung seines kläglichen Scheiterns steckt. “End of History, End of Europe, End of Opera”, so skizziert der Gesamtkünstler den Kern seiner Überzeugungen. Die Stationen der Opra-Reihe sind zeitlich teils ausufernde Großformen aus Musik, Schauspiel, Videos, Bildern, eigenen Texten und Zitaten, sie kommen auch ohne Gesang aus und teils auch ohne Publikum.
Der Titel Inferno ist August Strindbergs gleichnamigen, autobiographischem Krisenroman entliehen. Der Schriftsteller schildert darin seine Beschäftigung mit Alchimie und Okkultismus, aber auch seinen Verfolgungswahn. Strindberg war unter anderem von der Vorstellung besessen, seine Feinde griffen ihn mit Höllenmaschinen an. In Reinholdtsens Inferno ist es der Schlagzeuger, der dem höllischen Spiel seiner vollautomatisierten Trommeln hilflos ausgeliefert ist. Zwar setzt er die Soli mit einem kurzen Schlag in Gang, auf die Ereignisse hat er jedoch keinen Einfluss. Der entfremdete Arbeiter ohne Ideale, Überzeugungen und Ziele ist zum Zuschauen und Zuhören verdammt.
Im Mittelpunkt dieses Gesamtkunstwerks steht die Frage nach Woher und Wohin, nach dem Ursprung und der Zukunft der Musik. Auf der Suche nach Antworten holt Trond Reinholdtsen weit aus, weiter noch als Richard Wagner. In der Partitur, die zwar auch die Algorithmen für die Trommelautomaten enthält, finden sich Materialien aus den unterschiedlichsten Kontexten: Zitate von Dante und Strindberg, ein paar Sätze von Freud über Familien, Texte über die Midlife-Crisis, eine Fotoserie über die Wirkung von Absinth auf den Komponisten, Ölgemälde, Skizzen, alchemistische Superformeln und die wichtigsten Stills der zugespielten Filme. In den Filmsequenzen ist Reinholdtsen den Anfängen der Musik auf der Spur, zu einer Zeit, als der Mensch seine Abstammung vom Affen noch nicht leugnen konnte. Die Szenen handeln vom ersten bewusst erlebten Ton, von der ersten Verbindung zweier Klänge, der ersten musikalischen Gestalt. Anders als der Bayreuther Meister kreiert der Osloer Gesamtkünstler jedoch keine Superhelden. Trond Reinholdtsen inszeniert sich als künstlerischen Scharlatan in schlechter Verkleidung, als ewiger Affe, der den Meistersingern lauscht, während er in der Küche des 21. Jahrhunderts glibberigen Eierbrei anrührt. Die Sehnsucht nach Erkenntnis ist das zentrale Motiv dieses Opra. Seit den Anfängen der Kunst in der Steinzeithöhle ist ihr der Affenmensch offenbar noch nicht viel näher gekommen.
Martina Seeber