Malin Bång, ein ganzes Jahr verbrachten Sie als Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD in Berlin. Das ist eine lange Zeit. Inzwischen sind Sie zurück in Stockholm. Welche Erinnerungen haben Sie an dieses Jahr in Berlin?
Bevor ich kam, hatte ich die Vorstellung, einen Ozean von unverplanter Zeit zu haben, in der ich durch die Straßen von Berlin schlendern und mich inspirieren lassen würde. Die Realität war ganz anders. Es war ein sehr ereignisreiches Jahr, ich hatte viele Konzerte, ich habe mehrere Stücke komponiert, ich hatte eine ganze Menge zu arbeiten. Dabei bemerkte ich interessiert, wie Berlin für mich zur Heimatstadt wurde. Ich beschloss, dass das neue Stück, das ich für das Konzert bei Ultraschall schreiben würde, sich mit Berlin auseinandersetzen solle. Eine Reflexion über Berlin als Stadt.
Ich wollte ein Stück darüber schreiben, welche Veränderung einige Orte in Berlin durchlaufen oder schon durchlaufen haben. Ich mag es, die Orte, an denen ich lebe, mit der Musik zu verknüpfen, die ich gerade schreibe, so dass das Leben, meine Umgebung und meine Musik gewissermaßen Hand in Hand gehen.
Berlin ist für eine Komponistin wie Sie, die so stark vom Alltag ausgeht, eine ideale Stadt. Aber sie sind ja keine Soziologin, sondern eine Künstlerin. Wie sieht Ihre Feldforschung aus, wenn Sie die Stadt entdecken?
Ein Beispiel: Ich bekam den Tipp, mich in der Rummelsburger Bucht umzusehen. Es war ein sehr heißer Tag im August, ich lief am Wasser entlang und kam zu diesen neuen Wohnhäusern, die da auf einer riesigen Fläche gebaut wurden. Es gab nichts, kein Café, kein Restaurant, keine Geschäfte, nichts, was an die normale Berliner Atmosphäre erinnert. Ich war enttäuscht und dachte, ich sei umsonst hierher gekommen, weil der Ort so langweilig ist. Und dann sah ich plötzlich den Kindergarten, wo alles auf einmal sehr normal zuging, es tobte das pralle Leben, Gelächter, Schreien, wie es in einem Kindergarten eben üblich ist. Und dieser Kindergarten befand sich gerade einmal 50 Meter entfernt von der Gedenkstätte für die Haftanstalt, die es dort bis 1990 gab, das ist also noch gar nicht so lange her.
Und da war ich so herausgefordert von dieser Gegend. Wie ein Ort sich so schnell verändern kann, von einem Gefängnis zu einer feinen Wohngegend, mit Kindern, die so jung sind, dass sie nichts von der Vergangenheit wissen. Wie lange dauert es, einen solchen Ort auch mental umzubauen? Ihn mit neuen Gebäuden aufzubauen ist das eine. Aber wie lange dauert es, bis im Kopf der Menschen sich die Atmosphäre und die Einstellung zu einem solchen Ort verändert hat?
Und diese Erfahrung mit der Rummelsburger Buch wurde dann Teil Ihres neuen Werks.
Genau. Das neue Stück heißt How long is now, das ist auch der Titel des ganzen Konzerts. Es basiert auf vier solchen Erlebnissen in Berlin. Die Rummelsburger Bucht ist eines davon, ein anderes ist das Tacheles, auf dessen seitlicher Brandmauer “How long is now” als riesiger Schriftzug steht. Ich war dort im März 2012, als nur noch die Metallwerkstatt im Garten existierte. Es war wohl einige wenige Tage, bevor das Tacheles geräumt wurde. Ich habe mit einem der Künstler gesprochen und eine seiner Metallskulpturen gekauft. Diese Skulptur wird Teil meiner Musik sein. Sie hat ein sehr schönes Timbre.
Das war ein weiteres Kriterium für mich. Ich wollte nicht nur repräsentative Orte finden, sondern jeder Ort sollte auch ein Klangobjekt hervorbringen, das die Interpreten als ein Instrument spielen werden. Die Metallskulptur wurde zum Symbol für das Tacheles, für die Rummelsburger Bucht ist es eine Schaukel, von denen ich im Kindergarten viele gesehen habe.
Der dritte Ort ist der Flohmarkt am Mauerpark in Prenzlauer Berg. Die Gegend hat sich ebenfalls sehr schnell entwickelt von einem Streifen zwischen den Mauern zu einem sehr freudvollen Platz und einer sehr kommerziellen Gegend. Als ich dort war, gab es gerade eine Ausstellung von Schaufensterpuppen, 50 oder 100 von ihnen standen in einem Zelt. Ich war davon sehr fasziniert, denn das war etwas ganz anderes als das, was sonst dort verkauft wird, nämlich Möbel oder Kleidung. Der Flohmarkt wird also bei mir repräsentiert durch zwei Schaufensterpuppen.
Der vierte Ort ist das Tempelhofer Feld. Ich fuhr oft daran vorbei mit der S-Bahn, jedes Mal, wenn ich zum Flughafen fuhr, und es war interessant zu beobachten, wie die Leute dieses große Feld nutzten. Ich sah dort ein Drachenfestival, das einmal im Jahr stattfindet, und ich wollte die Drachen für meine Musik verwenden. Ich dachte eigentlich, dass dieser Ort von Dauer sei, umgewandelt in einen Erholungspark, in dem es nur die großen Gebäude und die Start- und Landebahnen gibt, in dem nicht sehr viel passiert. Aber dann erfuhr ich, dass es weitreichende Pläne gab, rund um das ganze Gelände Wohnungen zu bauen und in der Mitte einen Designer-Park zu errichten.
Sie arbeiten schon seit längerem mit solchen Klangobjekten. In der zeitgenössischen Musik kann heute jeder beliebige Gegenstand zum Instrument werden. Gibt es zwischen solchen Instrumenten und Ihren Klangobjekten noch einen kategorialen Unterschied?
Der für mich wichtige Punkt ist wirklich, dass man alles als Musikinstrument verwenden kann. Wir haben diese wunderbare Entwicklung in der Geschichte der klassischen Musik, dass jedes Instrument immer weiter verfeinert wurde und ebenso die Musiker immer virtuoser wurden. Als klassisch ausgebildete Musikerin will ich diese Instrumente so gut wie möglich nutzen, um Musik zu machen – und andererseits zu sehen, wie diese so kultivierten Werkzeuge mit manchmal sehr rohen Objekten zusammenwirken. Die Herausforderung besteht darin, ein Objekt wie zum Beispiel eine Schaufensterpuppe auszuwählen und dann zu erforschen, wie es Musik machen kann. Man muss sich dann fragen, was man mit seiner Musik erzählen will.
Was ich an den Objekten außerdem mag, ist, dass sie einen völlig anderen Assoziations-Pfad aufmachen. Wenn man auf einer Bühne einen Flügel und eine Violine sieht, stellt man sich unwillkürlich sofort all die klassischen Werke vor, die für diese Instrumente geschrieben wurden, und man hat eine bestimmte Erwartung, wie es klingen wird. Wenn man einen Drachen und eine Metallskulptur und eine Schaufensterpuppe sieht, hat man ganz andere Assoziationen.
… und ganz bestimmt nicht im Sinne einer klassischen Besetzung …
Genau. Obwohl natürlich einige dieser Objekte ihrerseits schon Standard sind. Für mich bedeuten solche Objekte einfach die Freiheit, alles benutzen zu können und gegen die Hierarchien der klassischen Musiktradition arbeiten zu können.
Auch in Structures of Molten Light und Turbid Motion benutzen Sie Klangobjekte, allerdings weniger herausgehoben. Vor allem aber arbeiten Sie mit Field Recordings aus Paris, Stockholm und Tokyo. Dürfen wir uns also auf eine Begegnung dieser Städte mit Berlin am 24. Januar im Hebbel am Ufer freuen? Oder werden diese Aufnahmen nicht doch ab einem gewissen Maß der kompositorischen Verarbeitung abstrakt und zu einer neutralen musikalischen Struktur.
Man hört nicht wirklich, woher der einzelne Klang kommt, denn ich habe keine besonders symbolischen Klänge aus jeder dieser Städte ausgewählt. In dem Projekt, für das ich diese Stücke schrieb, ging es um Licht und Dunkelheit. Meine Idee war, in der Nähe meiner Wohnung Aufnahmen bei Sonnenaufgang und Sonnenuntergang zu machen. Ich wollte hören, wie die Tätigkeiten der Leute klingen, wie die Geräusche der Stadt sich am Morgen und am Abend unterscheiden. Ich machte einige Aufnahmen, hörte mir das dann genau an und wählte daraus vielleicht eine halbe Minute von jedem Ort und jeder Zeit aus, die ich in Bezug auf die Orte am interessantesten fand. Ich transformierte diese Klänge dann in Instrumentalklänge. Es sind also keine Field Recordings in diesem Stück zu hören, sie werden von den Instrumenten ausgedeutet. Zunächst habe ich überlegt, ob ich die urbanen Momente so dokumentarisch wie möglich abbilden soll, aber dann habe ich mich dazu entschlossen, diese Momente auf meine eigene Weise zu interpretieren. Dadurch entstand ein engerer Zusammenhang zwischen einzelnen Ereignissen – wenn zum Beispiel das Crescendo der an einer Ampel beschleunigenden Fahrzeuge übergeht in das Läuten von Kirchenglocken, das wiederum ein Sprechen hervorruft. In meiner Komposition werden solche Interaktionen klarer. Letztlich sind Turbid Motion und Structures of Molten Light Collagen aus verschiedenen urbanen Momenten. Darüber hinaus verwende ich in Turbid Motion nicht nur die Aufnahmen, sondern auch Gedichte, die sich mit dem Verhältnis zwischen Dunkel und Licht beschäftigen, und außerdem auch einige Gemälde.
Sie verleihen durch das Collagieren den einzelnen Momenten eine zusätzliche Bedeutungsebene.
Ja, die verschiedenen Orte treten in einen Dialog miteinander.
Wenn Sie mit diesen Materialien arbeiten, folgen die Strukturen am Ende doch musikalischen Bedürfnissen und nicht der Eigenlogik der Aufnahmen. Und genau darin besteht der kompositorische, der künstlerische Akt.
Ich habe als Komponistin ziemlich klare Vorstellungen vom Timing und der Richtung, in die sich die Musik entwickeln soll, auch vom Energiegrad oder wie man mit der Zeitwahrnehmung in Musik umgeht. Ich kann solche Parameter nicht einfach dem Zufall überlassen, ich muss sie kontrollieren. Während des Studiums diskutiert man als Komponist viel darüber, welche Töne man wählt, man spricht über die Harmonien und den Kontrapunkt, über Form und Struktur. Wovon ich selbst aber am meisten gefesselt bin, das ist die Energie, die in der Musik steckt. Ich glaube, das ist der Rahmen für alles andere. Musik kann ein in die Länge gezogener Augenblick sein, ein Raum, in dem man sich aufhält, sie kann statisch sein oder ständig in Bewegung, verschiedene Schichten können gleichzeitig erklingen – alle diese Parameter bestimmen den Grad von Information, den wir beim Hören aufnehmen. Ich bin fasziniert von der Möglichkeit, all das bestimmen zu können. Da Musik eine Kunstform ist und, wenn sie im Konzert gespielt wird, einen Anfang und ein Ende hat, will ich als Komponistin die vollständige Kontrolle über die Situation haben.
Oder aber Sie teilen sich die Kontrolle mit einer Regisseurin, wie bei diesem Konzert. Wodurch der artifizielle Charakter des Abends noch unterstrichen wird, mit einer ganz speziellen Dramaturgie. Es handelt sich also um ein »inszeniertes Konzert«.
Das Konzert erscheint wie ein einziges Werk, als ein kontinuierlicher musikalischer Fluss aus fünf Stücken, bei dem die vier Zwischenspiele immer stärker die Objekte aus Berlin präsentieren. Anna Kubelik arbeitet vor allem mit Licht und mit Lichtpfaden, die das Publikum zu bestimmten Ereignissen führen, die während des Konzerts geschehen. Während der Zwischenspiele wird man bestimmte Hinweise auf die Bedeutung der Objekte erhalten.
Zwei weitere Werke in diesem Porträtkonzert sind Solostücke, eines für Violine, eines für Paetzold-Kontrabassblockflöte. In ihnen erforschen Sie nicht die Stadt, sondern das Instrument selbst.
In Purfling gilt meine Aufmerksamkeit nicht dem möglichst schönen Geigenklang als solchem, sondern den Klängen bei der Herstellung der Geige, vom brutalen Lärm beim Fällen der Bäume bis zur konzentrierten Atmosphäre in der Werkstatt des Geigenbauers mit seinen kleinen Sägen, Feilen und Hohlbeiteln. Alle diese fragilen Klänge werden von zwei Mikrophonen eingefangen und verstärkt.
Auch die Paetzold-Kontrabassblockflöte bei Split Rudder ist verstärkt. Ein Mikrophon im Inneren fängt ein weites Spektrum von Klängen ein, die von zartesten Luftgeräuschen bis zum rauen Brummen reichen. Die musikalische Entwicklung basiert dabei auf der Ballade Briggen Blue Bird of Hull des schwedischen Komponisten und Sängers Evert Taube.
Das Konzert bei Ultraschall bestreiten die Curious Chamber Players, Ihr eigenes Ensemble, bei dem Sie Gründungsmitglied sind. Sie arbeiten aber auch mit vielen anderen europäischen und außereuropäischen Ensembles, dem Nadar Ensemble aus Belgien, dem Nikel Ensemble aus Israel, dem ensemble recherche. Gibt es einen prinzipiellen Unterschied zwischen der Arbeit mit Ihrem eigenen Ensemble und der Arbeit mit einem der anderen Ensembles?
Der offensichtlichste Unterschied ist, dass ich mit den Musikern von CCP seit langer Zeit regelmäßig zusammenarbeite. Wir sind gute Freunde. Seit wir am Ende unseres Studiums an der Musikakademie mit dem Ensemble anfingen, haben wir ein gemeinsames Gefühl im Laufe der Arbeit entwickelt, es gibt enge Bindungen zwischen uns allen. Dazu kommt, dass CCP kontinuierlich meine Musik spielt. Es gab bisher, glaube ich, nur zwei oder drei Konzerte ohne meine Musik. Die Musiker kennen meine Klangwelt, meine Artikulationsweise, meine Spieltechniken, sie wissen, wie man die Gesten modelliert, sie kennen das Spiel mit Klangobjekten. Es ist eine ganz natürliche Angelegenheit.
Wenn ich zu anderen Ensembles komme, muss ich ausführlicher erklären, worum man sich musikalisch bemühen soll, um die Balance zwischen den Klängen zu finden oder die richtige Dynamik. Ich muss nicht immer so viel erklären, aber es macht schon einen Unterschied, wenn Du für einen Musiker schreibst, dessen Persönlichkeit du gut kennst.
Es gibt momentan einen Generationswechsel in der Ensembleszene, der auch im Programm von Ultraschall 2014 thematisiert wird. Neben den herausragenden Ensembles, die fast alle in den 1980er Jahren gegründet wurden, entstanden in den letzten Jahren eine ganze Reihe von jungen Ensembles, Nadar und Nikel gehören dazu, aber eigentlich auch CCP, obwohl es schon 2003 gegründet wurde. Wie ähnlich sind sich diese Ensembles in ihrer Ästhetik?
Alle diese Ensembles suchen nach Werken mit einer starken Ausstrahlung. Sie alle spielen Musik, die unsere Zeit, unsere Gegenwart widerspiegelt. Sowohl Nadar als auch CCP benutzen Elektronik und Objekte als interagierende Elemente, wobei Nadar stärker auf Multimedia und visuelle Elemente ausgerichtet ist, während CCP spezielle Mikrophone und viele akustische Objekte benutzt.
Das Porträtkonzert bei Ultraschall Berlin ist eine Art Coda für Ihren Aufenthalt als Gast des BKP in Berlin. Aber es wird wohl kaum der Schlusspunkt unter Ihre musikalische Beziehung zu Berlin sein. Die meisten Gäste des BKP bleiben der Stadt ja eng verbunden.
Ich hoffe es. Da ich während meiner Zeit in Berlin so viele Musiker und Komponisten kennengelernt habe, gibt es jetzt natürlich viel mehr Kommunikationsstränge für künftige Projekte. Mit dem Trio Faint Noise, dessen Mitglied ich bin, haben wir zum Jubiläum des Berliner Künstlerprogramms eine Zusammenarbeit mit Les Femmes Savantes begonnen, und es war eine sehr interessante Erfahrung, mit Musikern aus der Improvisationsszene zusammenzuarbeiten. Ohnehin fühle ich mich musikalisch in Berlin sehr zuhause. Ich werde bestimmt neue Gelegenheiten schaffen.
Das Gespräch führte Rainer Pöllmann.