Jan Müller-Wieland: ENGEL-LIEDER nach Gedichten von Birgit Müller-Wieland (2011)
Den Zyklus ENGEL-LIEDER hat der Komponist Jan Müller-Wieland auf Gedichte seiner Frau Birgit Müller-Wieland komponiert. Doch auch sein eigener Kommentar zu diesen drei Liedern hat poetische Qualität: “Die Götter sind dem Menschen gleich geworden und zu uns herabgekommen, / heißt es in der Apostelgeschichte. / Ich denke, für Engel gilt ähnliches. / Zumindest in diesen Gedichten von Birgit Müller-Wieland. / Ob nun an einem Septemberabend, / ob im Griechenland-Urlaub / oder beim Überlebenskampf eines Frühgeborenen. // Für Claudia Barainsky ist alles komponiert. / In Bewunderung für ihre Stimme.” Schon 1993, lange vor Entstehung der ENGEL-LIEDER, in der Laudatio anlässlich der Verleihung des Hindemith-Preises an Jan Müller-Wieland, sprach sein Kollege Peter Ruzicka von “wortgezeugtem Komponieren”. Lyrik regt die musikalische Fantasie von Jan Müller-Wieland an, nicht nur in Liedkompositionen, sondern auch in einer langen Reihe von Werken für das Musiktheater, wo er sich mit Dichtung von Frank Wedekind bis Oscar Wilde, Federico García Lorca bis Peter Weiss und von Gotthold Ephraim Lessing bis George Tabori auseinandergesetzt hat. Und immer vertont er Texte seiner Frau Birgit Müller-Wieland: Ihre Libretti liegen seinen Musiktheaterwerken Das Märchen der 672. Nacht (2000), Aventure Faust (2008) und Der kleine Ring (2010) zugrunde. Ihre Gedichte zog er für Drei Gedichte für Mezzosopran, Flöte, Viola und Harfe (1996), Kindheit für Bassbariton und Klavier (1997), Geheime Reise für Sopran und großes Orchester (1998) und Im Krieg für Sopran, Schlagzeug, Klavier, Trompete, Horn und zwei Violinen (2007) heran. Gemeinsam ist beiden, der Dichterin wie dem Komponisten Müller-Wieland, dass sie in ihren Werken expressiv sind ohne sentimental zu werden und starke Bilder respektive Gesten erzeugen ohne in vordergründige Effekte zu verfallen.
Musik ist für Jan Müller-Wieland prinzipiell eine “Körpersprache”, nämlich eine “Sprache, die durch den Körper erzeugt wird”. Umso mehr gilt dies für den Gesang, wo der Ton direkt im Körper entsteht und vom Resonanzraum Körper übertragen wird. Die direkte expressive Geste und eine latente szenische Vision sind dem Komponisten genauso wichtig wie die eigene Verortung in einer Geschichtlichkeit. Jedem der drei ENGEL-LIEDER hat er Vortragsbezeichnungen vorangestellt, die ein weites Assoziationsfeld eröffnen, weil sie sich nicht nur in der Form, sondern auch in ihrem Ausdrucksgehalt als Sedimente der Rezeption von Musik niedergeschlagen haben: Septemberabend, Frankfurt-Dornbusch soll “schreitend, wie eine Pavane” gesungen werden, Tragödie, griechisch “flott, Balladenton!” und Engel im Brutkasten als “adagio – Berceuse”.
Walter Zimmermann: Himmeln aus Colla Voce auf einen Text von Felix Philipp Ingold (2007)
Walter Zimmermann fasst seine Kompositionen in Werkgruppen zusammen. Allerdings verstehen sich diese nicht zwingend im Sinne eines Zyklus. Die einzelnen Stücke daraus sind vielmehr autonome Werke. Deshalb können solche Werkgruppen Stücke aus verschiedenen Jahren beinhalten: Die Kompositionen sind verschiedene Ausformungen, Beleuchtungen und Präzisierungen eines gemeinsamen künstlerischen Ansatzes, Schwerpunkts, eines Aspekts, einer ästhetischen oder thematischen Konstellation, die sich in den einzelnen Werken manifestiert. In Zimmermanns Werkgruppe Voces (2003–2007) sind unter dem spanischen Begriff für »Stimmen« sowohl Vokalwerke als auch Klavierstücke zusammengefasst. Ex negativo lässt sich dieser vordergründige Widerspruch am besten erläutern: Zu Voces gehören auch die Klavierkompositionen Voces abandonadas (»verlassene Stimmen«). Hier wird die Absenz der menschlichen Stimme in den Fokus genommen. Zimmermann lässt also das Klavier singen – mit den ureigenen Mitteln des Instruments, was etwas ganz anderes als Ergebnis hat als die »Lieder ohne Worte« aus der Romantik. Mit dieser dialektischen Grundvoraussetzung sind die Gesangsstücke aus Colla voce komponiert, wo die menschliche Stimme zu ihrem Recht kommt. Colla Voce aus Voces, 2003 und 2007, besteht aus sechs Kompositionen für Singstimme, teils mit einem Instrument, teils ohne. Der italienische Titel bedeutet als musikalische Besetzungsvorschrift, dass ein Instrument oder mehre Instrumente die Vokalstimme melodisch verdoppeln, also notengetreu mitspielen. Das Stück Himmeln schrieb Zimmermann 2007 zum 70. Geburtstag des Komponistenkollegen Aribert Reimann, der sich in einer Dankesnote begeistert zeigte von der rhythmischen Gestaltung, dem Variantenreichtum und dem musikalischen Raum, der sich in Himmeln eröffnet.
Den Text zu Himmeln hat Zimmermann im Gedichtband Wortnahme (2005) des schweizerischen Dichters Felix Philipp Ingold gefunden. Letztlich erweist sich Ingold als Geistesverwandter des Komponisten. Was nämlich Heinz F. Schafroth über Ingolds Gedichte gesagt hat, trifft mit Blick auf die musikalische Syntax auch auf die oft unkonventionelle und ganz besondere Behandlung des Gesangs in Zimmermanns Vokalmusik zu: “Sprache aber wird (…) zu einem neuen, fremden Kontinent, zur Fremd-Sprache, die der Auseinandersetzung mit der eigenen eine ganz andere Qualität der Reflexion und Einfühlsamkeit ermöglicht.”
Philipp Maintz: Septemberalbum. Lieder für Sopran und Klavier nach Texten von Ron Winkler (2010)
Lyrik kaufe er gerne “stößeweise”, hat Philipp Maintz in einem Interview einmal bekannt. Wenn ihn ein Gedicht anspreche, dann imaginiere er ganz unmittelbar Musik oder es ergebe sich ein “Aura-Abdruck, den eine Musik hinterlassen könnte, ohne dass ich zunächst weiß, wie sie wirklich klingt”. Bei Ron Winklers Gedichten war bei Maintz sofort der Impuls “Das schreit danach, gesungen zu werden!” vorhanden. Auf die Lyrik Winklers, der seine Inspirationen zu Gedichten als “Raunen in der Wahrnehmung” beschreibt, ist Maintz durch einen gemeinsamen Künstleraufenthalt aufmerksam geworden, wie er in einem Kommentar zu Septemberalbum schreibt: “Als ich 2004 für neun Monate auf dem Künstlerhof Schreyahn wohnte und arbeitete, hatte ich das große Glück, den Berliner Lyriker Ron Winkler als Nachbarn zu haben, der mir ein Exemplar seines Gedichtbandes vereinzelt Passanten schenkte. Ich habe damals eine Lyrik kennengelernt, die fern von allem Klischee war, unaufgeregt, zerbrechlich, manchmal eher lakonisch – und einfach wunderschön. Schon 2006 habe ich das achte Gedicht aus dem Zyklus Septemberalbum als ‘Geburtstagsständchen’ zum 70. von Aribert Reimann vertont, und nunmehr sechs Jahre später ließ sich der damals in Schreyahn gefasste Entschluss, einen Liederzyklus aus allen Zehnen zu schreiben, endlich in die Tat umsetzen. Meine Musik zu Rons Gedichten sollte zart und unaufdringlich sein und die vitale Leichtigkeit dieser nahezu hingewehten Worte widerspiegeln.”
Beim Komponieren von Septemberalbum hat Philipp Maintz, wie er sagt, “dem Gedicht den Sprachrhythmus entrissen, ihn durch meine üblichen Algorithmen gejagt, einen großen Berg Material dazu angelegt und dann mit dem Pinsel gezeichnet, wie ich es haben möchte.” Ableitungen des ursprünglichen Sprachrhythmus aus Ron Winklers Gedichten bestimmen die Klavierbegleitung von Maintz’ Liedern. Trotz der für den Komponisten typischen komplexen Organisation seines Tonsatzes orientiert er sich bei seinem Umgang mit Lyrik letztlich nah an den Strukturen der dichterischen Vorlage und nutzt sie sogar sensibel als wesentliche Elemente seiner musikalischen Gestaltung. Seine Kompositionen auf der Basis von Gedichten sind damit auskomponierte Liebeserklärungen an die Lyrik.
Hans-Jürgen von Bose: Bernhard-Zyklus. Fünf Lieder nach Gedichten von Thomas Bernhard (1994/2006)
Als “Neoromantik” und “Neue Subjektivität” wurde sein Schaffen etikettiert. Dabei geht es Hans-Jürgen von Bose nie um die in Töne gegossene, unreflektierte, unmittelbare Emotion. Mit der Bezeichnung “expressiver Strukturalist”, der ein “strukturelles Espressivo” (Siegfried Mauser) komponiere, kann sich der Komponist, der am vergangenen Heiligabend seinen 60. Geburtstag feierte, dagegen schon eher anfreunden. Bei einem Künstler, dem Klangsinnlichkeit und Ausdruck keineswegs fern liegen, der dies für sich und sein Werk sogar emphatisch eingefordert hat, verwundert es nicht, dass die Gattung Klavierlied einen zentralen Platz im Schaffen einnimmt. “Fast alle gute Dichtung besagt, dass etwas lebenswert ist, oder ereifert sich gegen etwas, das dem entgegensteht, macht jedenfalls emotionale Werte geltend.” Dieses Zitat aus einem Essay des von ihm verehrten Dichters Ezra Pound ist Hans-Jürgen von Bose im Zusammenhang mit Lyrik von großer Bedeutung. Thomas Bernhard, der sich in seiner Prosa und seinen Theaterstücken leidenschaftlich gegen die Klaustrophobie von Dogmen, Zwängen, Heuchelei, Dummheit und Verlogenheit wandte, ist einer breiten Öffentlichkeit als Autor von Gedichten weniger präsent. Doch die Auseinandersetzung des Subjekts mit dem Religiösen, mit den einem die Luft nehmenden sozialen Einschnürungen und den Verstrickungen der Herkunft, mit Ängsten und Einsamkeit, wird in Bernhards Gedichten ebenfalls mit der für ihn bekannten schonungslosen Klarsicht behandelt, allerdings leiser, in weniger spektakulären Ausdrucksformen. In Hans-Jürgen von Boses Liedern auf die Texte von Bernhard konzentriert sich die Singstimme in Prosodie und Artikulation auf die sensible Ausdeutung der Verse. Die Klavierbegleitung nimmt absichtsvoll die traditionelle Rolle des emotionellen Resonanzbodens und ausdeutenden Nachhalls ein. In der Verbindung mit diesen besonderen Texten hat dies schon wieder etwas zutiefst Verstörendes.