Ein Festival für zeitgenössische Musik bringt viel mehr als nur neue Musik mit sich. Es verbindet das Publikum und die Künstler auf einer musikalischen Ebene, aber bringt sie auch ins Gespräch. Es entstehen Atmosphären voller Entdeckerlust, Kreativität, aber auch Kritik. Wer steckt dahinter und lässt diese Kreativräume entstehen? Wer sucht aus, welche Werke zu hören sind und in welcher Reihenfolge sie gespielt werden? Um auf diese Fragen Antworten zu finden, spreche ich mit Rainer Pöllmann von Deutschlandfunk Kultur. Gemeinsam mit Andreas Göbel vom rbb leitet und moderiert er das Festival Ultraschall Berlin.
„Erstmal finde ich es total toll, dass Sie das Ultraschall-Festival so begeistert leiten. Wie ist das Programm für den zweiten Festivaltag entstanden und wie haben Sie genau die Stücke, die wir jetzt hören, ausgewählt?“
„Das ist ein Konzert von rund einem Dutzend Veranstaltungen beim Festival. Man kann auch dieses einzelne Konzert nicht absolut setzen. Das steht nicht für sich, sondern das steht im Kontext von fünf Tagen. Wir versuchen eigentlich eine gewisse Vielfalt und Perspektivenreichtum herzustellen, ohne dass es in Beliebigkeit ausartet. Man kann natürlich eine Vielfalt auch dadurch herstellen, dass man ein Stück aus dieser Richtung und ein anderes Stück ganz anderen Richtung auswählt. Und am Schluss ist alles vertreten, quotenmäßig. Das ist für uns aber nicht der Sinn der Sache. Alles soll sich sinnvoll gegenseitig beleuchten, in seiner ganzen Unterschiedlichkeit. Vom Temperament der Komponistinnen und Komponisten, von der Orchesterbehandlung, von außermusikalischen Inspirationsquellen, die da sind oder auch nicht, bis hin zur Entstehungszeit. Eigentlich ist es immer mein Ziel, in dieser Verschiedenheit Beziehungen entstehen zu lassen, die in den Stücken selber zu ihrer Entstehungszeit so gar nicht angelegt sind. Jedes dieser Stücke ist ja erstmal für sich komponiert. Und wenn man es dann in so einem Konzertprogramm zusammenspannt, dann entstehen da ganz unweigerlich Beziehungen, manchmal vielleicht auch Konflikte, manchmal Widersprüche. Und genau das ist aber die Chance von so einem Festival wie Ultraschall Berlin. Oft genug ist es ja so, ein Stück wird uraufgeführt und das war es dann. Und das ist ja auch nicht der Sinn der Sache. Wir haben beim Festival auch Uraufführungen, aber ein Großteil der Werke existiert schon. Und damit kann man arbeiten und spielen und kann sie genau solchen neuen Kontexten aussetzen, die vorher bei der Uraufführung, beim Auftrag, gar nicht da waren. Wir versuchen eigentlich oft genug, nach ihren Erstaufführungen Werken noch mal neuen Schwung zu geben und eben in diese neuen Kontexte zu überführen, damit sie sich dann weiter entfalten können.
Da haben Sie schon ein bisschen meine zweite Frage beantwortet, und zwar wie Sie entscheiden, wer hier vortragen darf. Sie meinten gerade, dass Sie Stücken die Chance geben wollen, die schon aufgeführt worden sind, noch mal gehört zu werden oder sogar richtig etabliert zu werden in Konzertabläufe. Aber vielleicht haben Sie da auch noch andere Kriterien, nach denen Sie etwas auswählen?
Ich würde auch da eigentlich eher ex negativo antworten, so aus dem heraus, was mein Verständnis ist und was es nicht ist. Es gab in den letzten Jahren in der Festivallandschaft eine zunehmende Herausstellung des Kuratorischen, mit Kuratoren, die ein Thema setzen. Und dann zieht sich dieses Thema durch die Veranstaltungsreihe und die Stücke, die dann dargespielt werden, die zu diesem Thema passen, die werden eigentlich für die Idee des Kurators zu einer Art Belegmaterial reduziert. Aber ich finde, es geht gar nicht um mich als künstlerischen Leiter, es geht nicht um mich als Kurator, es geht auch nicht um meine Allmacht oder um meine Allwissenheit, sondern ganz im Gegenteil.
Ich verstehe unsere Rolle als Festivalleiter erst mal darin, dem nachzuspüren, was die wirklich Kreativen, nämlich die Komponistinnen und Komponisten, die Interpretinnen und Interpreten, was sie als notwendig empfinden, was ihnen auf der Seele brennt. Dafür ein Forum zu bieten, dafür eine Plattform zu bieten, das ist unsere Aufgabe. Und manchmal entstehen dann dadurch auch Schwerpunkte – nicht Themen, aber Schwerpunkte – weil man merkt: Okay, das ist jetzt ein Thema oder eine Auseinandersetzung, die hat nicht nur Komponist A, sondern die hat auch Ensemble B. Und dann entstehen auch da plötzlich wieder Kontexte, Beziehungen und manchmal auch so etwas wie ein geheimes Thema eines Festivaljahrgangs. Aber das ist was ganz Anderes, das ist nicht gesetzt und die Programme richten sich danach, sondern aus den Programmen selbst heraus entstehen dann bestimmte Schwerpunktsetzungen.
Und wie ist das genau, gehen Sie auf die Komponisten, Komponistinnen oder Musiker, Musikerinnen zu oder gibt es auch Komponisten, Komponistinnen, die sagen, ich habe was Neues geschrieben, ich würde das gerne auf deinem Festival präsentieren?
Beides. Das ist eigentlich ein ständiges Gespräch, dass man führt, man wird angesprochen, hört selber was und denkt, oh, das ist aber interessant oder beziehungsweise: Das finde ich jetzt spannend, kann ich aber selber nicht machen oder hat jemand anders in Berlin schon aufgeführt, dann hat es keinen Sinn, das nachzuspielen. Aber vielleicht gibt es da von diesem Künstler, von dieser Künstlerin noch mal irgendwas Anderes, was mich interessiert oder was spannend sein könnte. Manchmal kommen Ensembles, die im intensiven Kontakt mit Komponisten stehen und sagen: Mensch, wir haben da so eine Idee, so einen Plan, wäre das nicht was für Ultraschall? Und manchmal ist es was für Ultraschall und dann sind immer noch tausend andere Erwägungen zu prüfen, finanzielle, logistische, manchmal können wir solche Projekte auch einfach nicht stemmen. Wir sind so gesehen trotz der beiden ausrichtenden Rundfunkanstalten ein kleines Festival und da muss man dann auch sagen: Tut mir leid, da sind wir nicht der richtige Partner. Aber oft genug sind wir der richtige Partner, und dann freut es alle Beteiligten.
Was glauben Sie, wer entscheidet heute, was wir in 200 Jahren noch von der heutigen Gegenwartsmusik hören können und wollen?
Das entscheidet heute gar niemand. Das entscheidet die Zukunft. So wie ja auch vor 200 Jahren niemand entschieden hat, dass wir zum Beispiel einen Komponisten wie Karl Ditters von Dittersdorf kennen, aber jetzt auch nicht andauernd rauf und runter spielen – einen wie Beethoven dagegen schon. Also gut, den Unterschied gab es und den, glaube ich, haben die Leute vor 200 Jahren auch schon erkannt. Und so kann man vielleicht mit einer gewissen Sicherheit auch schon heute sagen: Das ist ein wirklich großer Künstler, ein großes Werk oder das ist dann vielleicht doch etwas, was nicht überleben wird. Aber man kann sich da brutal täuschen! Das ist ja eigentlich überhaupt das Spannende an Musikgeschichte oder an Kunstgeschichte. Also, die Frage kann ich nicht beantworten. Heute können wir nur nach bestem Wissen und Gewissen und – das klingt jetzt ein bisschen kitschig – ehrlichen Herzens agieren. Also, was wir machen können, ist nicht einfach „Greatest Hits“ abzufeiern, sich nicht einfach an irgendwelche Trends dranzuhängen und zu sagen, das gefällt mir zwar nicht, kommt aber gut an, sondern es braucht schon eine Ehrlichkeit der eigenen Auseinandersetzung. Und ansonsten ist das aber wirklich ungesichertes Terrain.
Unsere Nachfahren werden es erfahren, wer weiß, ob dann Algorithmen geschrieben werden, die bestimmen, was am meisten gehört wurde?
Ich leiste mir die Nostalgie zu sagen, dass Algorithmen ganz sicher in Zukunft sehr viel entscheiden werden, aber vielleicht gibt es andere Kriterien, als nur, was am meisten gehört wurde. Die quantitative Bewertung ist das eine, die qualitative Bewertung ist in künstlerischen Fragen, finde ich, schon auch weiterhin wichtig.
Was verbindet Sie eigentlich persönlich mit zeitgenössischer Musik? Warum haben Sie sich entschieden, ein Festival für zeitgenössische Musik zu leiten und nicht ein Mozart-Festival?
Nichts gegen Mozart. Auch nichts gegen Emerson, Lake & Palmer oder auch Hip-Hop. Ich bin musikalisch und in meiner journalistischen Tätigkeit nicht Redakteur für neue Musik, sondern ich bin Redaktionsleiter im Musikjournalismus. Also das heißt, da ist es sowieso auch völlig genreoffen. Warum mir jetzt die zeitgenössische Musik irgendwie lebenslang ans Herz gewachsen ist und schon als junger Mann nahe war, kann ich gar nicht so sagen. Mich hat das zu Schulzeiten schon fasziniert, diese anderen Klänge, dieses Neue, dieses Ungewohnte. Und ich habe dann sehr viel als Kritiker gearbeitet, habe Festivals beschrieben und beurteilt, bin dann eben ins Radio als produzierender Kollege auch reingekommen, habe Aufnahmen gemacht und habe dann eben vor 25 Jahren dieses Festival mitgegründet. Es ist mir nicht langweilig geworden.