
Der Zuschauerraum des Großen Sendesaals im Haus des Rundfunks mit seinen rot gepolsterten Klappsitzen im hohen hellgetäfelten Saal ist gespickt mit geöffneten Instrumentenkoffern. Das Orchester befindet sich inmitten seiner ersten Probe hinter den Pulten, Lin Liao, die Dirigentin auf ihrem Podest. Ihre Stimme ist dem Orchester zugewandt. Heute, vier Tage vor dem Eröffnungskonzert des Ultraschall Berlin Festivals, findet die erste Probe des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin mit Lin Liao für das Eröffnungskonzert statt. Als UltraschallReporter erhält eine Handvoll junger Musikjournalist*innen einen besonderen Einblick in die Probenarbeit. Wir setzen uns möglichst still in die menschenleeren Reihen.

Auf die Momente vom gemeinschaftlichen mutigen Sturz in die Noten folgt gelöstes Stimmengewirr. Lin Liao, in professioneller Gespanntheit, gibt klare ausdrucksstarke Anweisungen dazu, was sie beim erneuten Anspielen probieren möchte. Sie lässt einzelne Instrumentengruppen alleine spielen, was deutlich macht, wie viel Komplexität sich schon in der Orchestrierung allein der Holzbläser findet. Die Musiker*innen hören ihre eigene Vielstimmigkeit so aus dem Ganzen herausgenommen genauer. Für mich als Zuhörende der Probenarbeit ist dieses kurze charaktervolle Stück Klang ein einzigartiges Erlebnis.
Wenn die Musik so organisch wird, dass sie sich als Bewegung von der Zeit loszulösen scheint, dann trennen sich wohl die Welten der Spielenden und bloß Hörenden, weil, so rufe ich es mir in Erinnerung, die Spielenden innerhalb des Notenblatts verortet und mit der zählbaren Zeit verhakt bleiben müssen und womöglich mit Taktwechseln und Ritardandi beschäftigt sind. Währenddessen kann das Publikum die Musik einfach nur passieren lassen und sich der „Tour de Trance“ in ihrem Wabern und Schlingern hingeben. Lin Liao drückt sich einfach aus, um das besondere Ergebnis zu erzielen, so höre ich zum Beispiel sinngemäß die Anweisung „weniger nach unten, mehr nach vorne spielen“, die sie zusätzlich körperlich kommuniziert.
Es gibt starke Kontraste von laut zu leise, und dabei ist die Musik doch auch durchgängig eine leicht zugängliche und mitvollziehbare physikalische Masse in Klangform. Das Stück ist geprägt von klaren Strukturen, die wir sogar auf der Bühne sehen können. Da sind die geradezu stereohaft angeordneten zwei Paukengruppen links und rechts und zwei Vibraphone links und rechts auf der hinteren Ebene des so ergänzten symphonischen Orchesters, in der sich das Schlagwerk breit ausfächert. Es gibt Passagen, bei denen sich die noch nicht anwesenden Köpfe im Publikum recken, um herauszufinden, welche Instrumente nun diesen Klang erzeugen. So erklingen die Kontrabässe traumhaft entfremdet, in einer gleichzeitigen Einfachheit und leiten ein tiefbassiges Spektakel ein, ein klassisches orchestrales Drama: ein Krachen, ein Brutzeln und Brodeln von Streichern und Bläsern. Die Pauken unterstützen die Klänge der anderen Instrumente teils kaum merklich, scheinbar von unten, sodass sie als solche nicht unbedingt hörbar sind, aber einen dumpferen größeren Klang durch ihr Mitwirken kreieren.
Das Gedicht „tour de trance“ von Monika Rinck, auf dem das gleichnamige orchestrale Werk mit Sopran-Gesangsstimme von Arnulf Herrmann basiert, beschreibt eine Kette von Vorgängen, die physikalisch im Raum und chemisch zwischen reagierenden und sich formierenden Stoffen zu geschehen scheinen. („Wie sich alles drehte, wiederholte, dehnte/ und rotierte, die wärme war a space so vast“) Das Ganze ist fühlbar durch die Sinnlichkeit der Vorstellung von einer körperlichen Bezugnahme und zusätzlich öffnet sich in einzelnen Formulierungen eine emotionalere Bedeutungsdimension („Wo etwas fehlte, wurde alles größer“).
Auch in Herrmanns musikalischer Interpretation scheint etwas Fühlbares durch physikalische Phänomene hervorgebracht zu werden. Es geschehen innerhalb der Musik Energieübertragungen, Reaktionen, physikalische rational feststellbare Ereignisse, die eine emotionale Dimension haben. So zum Beispiel ein Widerhallen von Impulsen wie ein Pingpongspiel durch das Orchester hindurch, oder auch eine Klangfarbenübertragung zwischen Instrumentengruppen und Soloinstrumenten, bei der etwas von Einem ins Andere weitergetragen wird. An anderer Stelle wird ein weiter Raum geöffnet durch eine Verzögerung zwischen der anführenden Klarinette und dem stark verzögert folgenden Orchester. Ebenso ist ein Nachhall komponiert worden – ein Phänomen, das außerhalb der komponierten Musik von Klangquelle und Raumakustik abhängt und hier ausgestaltet mitzuerleben ist. Einem lauten Impuls folgt ein lang stehender, leiser Klang, in dem unerwartete zusätzliche Geräusche wie Fasern hervorlugen und sich der Klang beim Leiserwerden und Ausdünnen verändert und differenziert.
Diese zu beobachtende Feinheit und das Hervortreten von Individuen aus dem Gesamtklang sind bemerkenswert. Es sind teils ganz einfache, unaufgeregte Töne, ein geblasener Ton, ein gestrichener Ton, und doch sind sie genau richtig so. Die Harfenistin darf ungewohnt unsanfte, sich überschlagende Töne aus den tiefen Saiten hervorholen. Das Cello legt sich mit einem akzentuierten melodiösen Zupf-Solo mit starkem Ausdruckswillen auf eine in den Hintergrund tretende Fläche.

Lin Liaos offener Blick auf die Musiker*innen als lebendige Menschen bildet eine Grundlage für eine Musik, die an der Individualität und an den Möglichkeiten der Instrumente und der Menschen interessiert ist. Für das spontane Gespräch mit uns opfert die Dirigentin bereitwillig fast ihre gesamte Pause und wir erleben sie als eine sehr offene, hochmotivierte und -motivierende Person. Beim Sprechen über den Prozess vom Partitur-Lesen, bei dem sie die Musik schon innerlich hören kann und den Sinn in der Musik zu verstehen sucht, zum Gespräch mit dem Komponisten, bis hin zum Proben mit dem Orchester (sie nennt es unprätentiös „Probieren“) tritt Lin Liaos zutiefst humane Grundhaltung zutage: sie gehe nie mit einer absoluten Meinung zu dem Stück zur Probe. Sie sagt: „Weil wir Menschen sind und jeden Tag auch anders sind. Sie wissen ja, wir sind nicht jeden Tag gleich drauf – die Musiker sind auch nicht jeden Tag gleich drauf, deswegen reagiere ich auch auf die Leute.“
Ein Konzertsaal ist auch ein Begegnungsort und ein Ort der Transformation, was am deutlichsten bei der Probenarbeit erlebbar ist. Das Zusammentreffen mit Lin Liao hat mir ein tieferes Verständnis für die Position der Dirigentin gegeben, die keine bloße Taktangeberin und Dompteurin ist, sondern mit einem empathischen Wesen Besonderes schaffen kann.