„Wenn es keine Idylle gibt, ist das für die Kultur schöner“, sagt Festivalleiter (rbb Kultur) Andreas Göbel in seinem Vorwort zum Konzert „Unheavenly Lullaby“ mit Sarah Maria Sun (Gesang) und Jan Philip Schulze (Klavier). Ganz so tragisch wird es dann doch nicht, denn bereits in den ersten Stücken ist zu hören, dass das Familienleben keineswegs schwarz-weiß ist, sondern eher so grellgelb und strassbesetzt wie Suns Highheels mit Pfennigabsätzen, so tief violett, wie ihre glänzende Satinhose oder so grasgrün wie ihre Bluse. Bunter ist nur noch das Programm, in dem das Duo in unzähligen Miniaturen (teils unter einer Minute) verschiedenste Familienkonstellationen auf die Bühne bringt. Dabei nehmen die beiden verschiedenste Rollen ein. Sun ist mal das Kind, das in heiteren Ton vom Lover und der Tablettensucht der Mutter berichtet, mal Vater, der fantasievolle Postkarten an seine Kinder schreibt und mal Mutter, die ihrem schreienden Kind aus Verzweiflung nur noch ein Lullaby entgegenschreien kann. Spannend ist zu beobachten, wie sich Schulze dazu verhält und dadurch auch das Klavier in zwar weniger eindeutige, aber doch kommentierende Positionen und Beziehungen zum Gesungenen bringt.
Wie Sun zwischen den Individualstilen der Komponist:innen mit unterschiedlichsten technischen Anforderungen binnen Sekunden wechselt, ist höchst beeindruckend. Es gab viele Perlen in diesem abwechslungsreichen Programm. Besonders in Erinnerung bleiben zwei Werke, die kontrastreicher nicht sein könnten.
Bei „Nana de los que no duermen“, einem Schlaflied für die, welche nicht träumen also, von der anwesenden Komponistin Elena Mendoza, steckt der Pianist die meiste Zeit mit dem Kopf im Flügel und bearbeitet sie Saiten – was bei Neuer Musik ja nicht weiter überrascht. Was allerdings überragend gut musiziert ist, sind die Übergänge zwischen Gesang und Klavier, in der Sun und Schulze aufs Feinste abgestimmt Töne so voneinander abnehmen, dass bei geschlossenen Augen nicht hörbar ist, wann wer Klängevon sich gibt. Ein Knarzen mit einem Flummiball direkt auf der Saite und dann auf den Stimmbändern, oder ein oberton- und vibratoloses Flirren, das aus der Kehle wie durch Zauberei ins Klavier gerät. Der Stoff und die Wirkung des Stücks bringen einen jedoch eher zum Schaudern, denn es klingt nach einer fürchterlichen Albtraumnacht für ein Kind, aus der Perspektive der Mutter.
Einen spritzigen Gegenpol dazu bilden Auszüge aus dem Liederzyklus „13 Lieder nach Postkarten von Jurek Becker an seinen Sohn Jonathan“ von Miroslav Srnka. Die kurzen Stücke beginnen zum Beispiel mit „Du alter Kullerpfirsich“, „Du alte Ananasbirne“ oder „Du alte Mohrrübenzwiebel“ worauf immer absurder werdende Geschichten folgen, die sich der Vater für den Sohn ausdenkt. Der Weihnachtsmann, den er an Ostern gesehen hat wird ebenso unterhaltsam beschrieben und vertont wie die Idee, die Mutter wie eine Schlange zu beschwören und aus einem Wäschekorb emporsteigen zu lassen. Nur an einer Stelle kippt die heitere Stimmung, wenn der Vater schreibt: Wenn ich zurückkomme und dich umarme, lass ich dich nie wieder los. Durch die auseinandergezerrten Silben in aufsteigender Tonhöhe wirkt dieser Satz mehr wie eine Bedrohung, als dass er nach Vorfreude klingt. Ich glaube, Jonathan freut sich trotzdem immens, seinen Vater wiederzusehen.
Überraschenderweise kann die Zugabe diesen vielseitigen Konzertrahmen noch ein letztes Mal sprengen, wenn Sarah Maria Sun in die Rolle des Wolfes aus dem Musical „Into the woods“ schlüpft und mit „Hello, little girl“ versucht, Jan Philip Schulze in der Rolle des Rotkäppchens völlig schambefreit zu verführen. Das Publikum versucht das kitzelnde Lachen zu unterdrücken, um keinen Ton dieser herausragenden Performance zu verpassen.