Andreas Göbel ist einer der beiden Kuratoren des Ultraschall Festivals. Er begrüßt die Ultraschall Reporter und leitet uns in das Eröffnungsprogramm ein: „Alexandra Filonenkos Komposition Memory Code beschreibt eine Chronologie des 20. Jahrhunderts. Die Streicher sind alle aufgeteilt und spielen 50 verschiedene Einzelstimmen. Die Bläser bedienen zusätzlich Perkussionsinstrumente. Es ist ein gewaltiges Werk.“
Mit diesem Vorgeschmack besuche ich die erste Anspielprobe des Deutschen Symphonie-Orchesters. Es ist gerade Mittagspause und die Sitzreihen auf dem Podium des großen Sendesaals sind leer – nur die Dirigentin Lin Liao bespricht sich mit dem Stimmgruppenführer der zweiten Violinen, wie die nach der Pause folgende Komposition am besten zu spielen sei. Lin Liao versucht in ihren Antworten eine Klangvision zu inspirieren. Sie macht „wusch“-Geräusche und ekstatische Handbewegungen, um die Energie und Richtung der Musik anzuzeigen. Trotzdem lässt sich die Besorgnis von Johannes Watzel nicht ganz auflösen. Ein Blick in die Partitur verrät auch den Grund für die entgeisterte Haltung des Musikers. Die Legende am Anfang erklärt eine Reihe von erweiterten Spieltechniken, welche die Streichinstrumente fast konstant verwenden und das dazu noch in einem rasanten Tempo – es wechseln sich Kratzgeräusche, Klopfen und Pizzicati pro Takt mehrfach ab und Watzel vermutet im Tutti das Klangergebnis einer hektischen Geräuschkulisse, wie es sie häufig in der Zeitgenössischen Musik gibt. Und trotzdem ist jede Bewegung genau rhythmisch ausnotiert, was für einen präzise Umsetzung einen enormen Übeaufwand bedeutet, erklärt mir der Geiger, als ich danach frage. Und es gäbe auch andere Notationsformen, die den Musiker*innen mehr Freiheit lassen und vielleicht ähnliche Klangergebnisse erzielen.
Der große Moment der ersten Probe für Memory Code ist da. Aufgeregtes Getuschel in den ersten Violinen, ich höre eine Streicherin zu ihren Sitznachbarn flüstern: „Do we have the same part? Because my part is different, and it scares me.“ Eine verständliche Reaktion – normalerweise spielen die Streichinstrumente im Orchester in großen Gruppen den gleichen Notentext. Dieses extreme Divisi-Spiel mit 50 verschiedenen Pulten ist ungewohnt, und auf einmal die ganze Verantwortung für eine so komplexe Stimme zu tragen kann Druck und Angst auslösen. Die Spannung im Saal ist spürbar und das Getuschel will sich gar nicht richtig legen. Lin Liao bleibt cool und beginnt – doch der genaue Anfang des Stückes lässt sich für mich im Zuschauerraum gar nicht genau erhören. Die Klänge der Menschen mischen sich mit den zunehmenden Geräuschen der Instrumente und eine geisterhafte Atmosphäre umspinnt mich.
Ein interessanter Kratzklang kommt von einem der Streichpulte und wird sogleich in einem unregelmäßigen Echo rundherum aufgegriffen. Ich begreife, dass die auf den ersten Blick so wahllose Anordnung erweiterter Spieltechniken Methode hat und das musikalische Material sehr eng verzahnt immer wieder hörbare Fixpunkte anbietet. Vor mir erhebt sich eine wahrhaftig dreidimensional und sich bewegende Klangwolke. Es ist eine elektrisierende Kraft, die erst im Zusammenspiel des Orchesters entdeckt werden kann und Gänsehaut überläuft meinen Körper immer wieder. Die Organisation der Klänge in Zeit erzeugt hier eine riesige Spannung, mit durchdringenden Bläserakkorden, Styropor auf den Trommeln und einem glucksenden Regen an ungewohnten Klängen von den Geräuschobjekten in den Händen der Bläser*innen. Das Orchester erscheint wie ein vielstimmiges Lebewesen und erzählt eine Geschichte von Unsicherheit, Chaos und Energie.
Als Lin Liao nach fast 10 Minuten diesen ersten Durchlauf abwinkt, ist das Orchester spürbar erleichtert, denn die Idee und Vision des Werkes wurde greifbar. Die Komponistin Alexandra Filonenko ist ebenfalls anwesend und unterstützt mit detaillierten Anweisungen zu den einzelnen Spieltechniken: „Ziffer elf, zweiter Takt. Das Pizzicato in den Bratschen und zweiten Violinen ist hinter dem Steg. Und laut bitte, lieber etwas mehr geben.“ Die Probe ist vorbei und ich sehe Filonenko direkt in einen Austausch mit der Dirigentin gehen. Ihre Körperhaltung und die ausgetauschten Worte des Dankes und der Beteuerung erzählen von der gegenseitigen Wertschätzung und Teamarbeit der beiden. Einem Kontrabassisten beantwortet die Komponistin danach noch Detailfragen. Zu jedem Takt und jeder Spieltechnik hat sie etwas zu sagen und ein begeistertes „Ja, ja, ja, ja!“ erklingt von ihr, wenn der richtige Klang dem Instrument entlockt wird.
Ich frage Alexandra Filonenko, wie und wieso sie solch komplexe Partituren schreibt. Sie antwortet: „Ich probiere die Techniken immer an den Instrumenten selbst aus. Von den Musiker*innen verlange ich dann eine Virtuosität, die Techniken auch in einem schnelleren Tempo als ich auszuführen. Aber letztendlich sind es immer Patterns, die sich wiederholen und diese müssen unter die Haut der Musiker*innen kommen. Danach ist es auch nicht mehr so wichtig, ob sie eine Quintole oder Sechzehntelpause spielen, wenn der richtige Klang und die Emotion dahinter stimmen. Ich möchte, dass die Musiker*innen sich an einer Grenze bewegen. Und wenn ich es nicht ausschreibe, dann spielen sie alles ganz anders. Ich muss es genau ausnotieren!“
Und mich hat das Klangergebnis auch überzeugt. Vielleicht lag es auch an der transparenten Hörerfahrung, die ich in der 4. Parkettreihe machen konnte. Oder dass die nervöse Spannung der Musiker*innen sich in den Saal übertragen hat. Ich bin gespannt, das beim Eröffnungskonzert noch einmal zu überprüfen.