Ultraschall im Schnee. Ich mache mich mit einigen Rutschern auf den Weg zum Radialsystem. Als eines der ersten Pumpwerke Berlins liegt es direkt an der Spree nahe dem Ostbahnhof. Heute ist es einer der drei Aufführungsorte des Festivals. Gespannt sehe ich der Probe des Ensembles LUX:NM im großen Saal entgegen. „LUX:NM versteht sich als Initiator*in und Entwickler*in neuer Konzepte in der zeitgenössischen Musik“, habe ich noch in der S-Bahn auf der Website des Ensembles gelesen. Das 2010 gegründete, undirigierte Ensemble hat seither mindestens 150 Uraufführungen gespielt.
Auch die Stücke für das kommende Konzert sind für Saxophon, Trompete, Posaune, Akkordeon, Klavier, Violoncello und Schlagwerk geschrieben – die ungewöhnliche Besetzung von LUX:NM. Die Instrumente stehen bereit, das Licht wird noch getestet. Angespannt und konzentriert eilen Musiker*innen und Techniker*innen über die Bühne und durch die Ränge. Mikrofone werden getestet und letzte Markierungen auf den Bühnenboden geklebt.
Die Probe beginnt. Pünktlich. Ich bin beeindruckt vom mitreißenden Klang, den präzisen Einsätzen der Blechbläser. Aber auch die Art der Kommunikation zwischen den Ensemblemitgliedern nimmt mich ein. Ein knappes Nicken, kurze Sätze und immer wieder allgemeine Heiterkeit, gerade wenn es mal nicht so klappt wie man es sich vorgestellt hat. Es herrscht Zeitdruck, aber alle bleiben zugänglich für letzte Änderungen und Anmerkungen der Kolleg*innen. Von verschiedenen Seiten wird der Wunsch laut, ausgewählte Passagen zu wiederholen. Die Saxophonistin Ruth Velten ist es, die den Probenprozess strukturiert. Mit entschiedener Körpersprache gibt sie die Einsätze vor, und öfters fällt bestimmt-freundlich der Satz: „Dazu haben wir jetzt keine Zeit.“ Mir gefällt das Zusammenspiel von Saxophon, Posaune und Trompete, aber auch das Akkordeon, gespielt von Silke Lange, lässt mich aufhorchen. Ohne dominant zu sein fügt es sich ein und geht dennoch nicht unter. Leise Klänge lassen Raum für „Atemgeräusche“ des Balges, und auch die Geräusche der Ventilklappen werden zum Teil des Spiels.
In einer kurzen Probepause nimmt Silke Lange sich Zeit mir von der Vielseitigkeit des Instruments zu schwärmen. Am Bühnenrand stehend zeigt sie mir dann noch ein zweites Akkordeon. Eines in kleinerer Ausführung, das mit Kabeln und einem kleinen Drahtquirl versehen ist, der aussieht wie von einem Milchschäumer abgeschraubt. Er lässt sich mit einem Schalter in eine Drehbewegung versetzen. Das sei ihr Zwilling erklärt, Silke Lange mir lachend, während ich wohl einigermaßen verdutzt dreinschaue. „Jeder von uns hat einen Zwilling“, fügt sie dann noch rätselhaft hinzu und ich verpasse es, nachzufragen. Miniaturversionen der gespielten Instrumente stehen in einer Reihe und sind mit unterschiedlichen technischen Vorrichtungen versehen. Sie werden für das letzte und längste Stück des Programms, „bog songs“ der irischen Komponistin Karen Power, gebraucht. Es verbinde auf ungewöhnliche Weise musikalische und Außen- und Naturklänge und habe eine ganz eigene Art der Notation, erzählt Silke Lange. Diese musste erst einmal in einem „Erarbeitungsprozess“ entschlüsselt werden. Dann eilt die Akkordeonistin zurück zu ihrem Geschwisterinstrument, denn die Probe geht weiter. Ich freue mich, die geheimnisvollen Apparaturen während des Konzerts endlich in Aktion zu sehen.
Im Konzert wabert Nebel in deckenhohen Lichtsäulen. Fünf höchst interessante Uraufführungen erlebe ich, wobei ich immer noch ungeduldig auf den Einsatz der Zwillinge warte, die unbespielt an der Bühnenkante ruhen. Schließlich stehen die Musiker*innen nacheinander von ihren Plätzen auf und bewegen sich langsam in Richtung Zuschauerraum. Silke Velten beugt sich als erste hinunter zu dem kleinen Akkordeon, so, als nähere sie sich einem nie gesehenen Tier. Es scheint fraglich, ob es ihr freundlich gesinnt ist. Dann beginnt die Drahtspirale wild gegen die Akkordeonwand zu schlagen – ein sonores, holpriges Klackern. Nach und nach bringen auch die anderen Musiker*innen die Klangmaschinen ihrer Zwillingsinstrumente in Bewegung. Es rappelt, knarrt und scharrt. Eine eigentümliche Verbindung von spielerischen Naturgeräuschen und Technik. Die Klänge dieser lebendigen Maschinen nähern sich mir aufdringlich, und die Menschen verlassen geschlossen die Bühne. Zurück bleibt ein geschrumpftes Ensemble technischer Zwillinge, das quirlige Endlosklänge produziert.