Leise schleicht sich das Werk von Yiran Zhao an. Wie Naturgeräusche klingt die Musik, die langsam in meine Ohren kriecht. Angenehm, finde ich, klingen die Anfänge von „Oder Ekel kommt vor Essenz“. Man könnte die Akkorde, die zu Beginn vom Deutschen Symphonie-Orchester Berlin gespielt werden, fast für klassische Musik halten, bis sie in einem Schleifen und Schieben einen Ton nach unten rutschen. Und trotzdem erscheint mir der erste Teil des Stückes von Yiran Zhao melodisch. Auf einmal bricht die Musik ab, eine umfassende Stille erklingt und ich halte sie für einige Sekunden für einen Teil der Komposition; bis mir klar wird: Nein, nur das WLAN spielt mir einen Streich und die Übertragung des Abschlusskonzertes wurde unterbrochen. Über die mobile Datenverbindung kann ich schließlich weiterhören und die Stimme des Dichters Fiston Mwanza Mujila beginnt flüsternd, Teile seiner Texte zu rezitieren. Das Flüstern entwickelt sich zu einer ausdrucksstarken Stimme und ich muss zugeben, würde ich diese nachts alleine auf der Straße hören, würde ich mich schleunigst aus dem Staub machen. Mir läuft ein Schauer über den Rücken, wenn Fiston Mwanza Mujila mit rauer Stimme aus seinem Gedichtband „Fleuve dans le ventre“ (Fluss im Bauch) rezitiert. Und vielleicht liegt es auch an meinen Französischkenntnissen, die mich das „In meinem Bauch ist ein dreckiger, fauliger, hässlicher Fluss […] und ich esse und werde nicht satt, soll ich mein Geschlecht und meinen Bauch essen?“ verstehen lassen und den Grusel erzeugen. Ein Grauen, das in so krassem Gegensatz zum Beginn des Stückes steht. In meinen Augen ergänzen sich Orchester und Stimme nicht; sie klingen mehr wie Gegensätze: weiß und schwarz, beschaulich und schauerlich.
Vorangegangen war „Burr“ von Arne Gieshoff. Ich zuckte zusammen, als das Orchesterwerk begann, so energisch ist die Musik. So energisch, dass sie alle Alltagsgeräusche, ja sogar den Fernseher im Nebenzimmer übertönt. Die lauten Klänge haben mich in ihren Bann gezogen, bis sich die Stimmung plötzlich in eine sphärische Atmosphäre wandelt. Es ist bemerkenswert, dass dieses Stück nur etwa fünf Minuten dauert und in dieser verhältnismäßig kurzen Zeit so viele verschiedene Stimmungen erklingen. Am Ende scheinen Vögel zwitschernd davonzufliegen.
Sowohl diese Stücke, als auch meine Hörerlebnisse bei Ultraschall 2022, sind charakteristisch für das ganze Festival. In pandemischen Zeiten waren sie live und in Farbe im großen Sendesaal in Berlin zu hören, gleichzeitig wurde das Konzert im Radio übertragen und kann online, von jedem Ort auf der Welt, nachgehört werden. Das zeigt doch nur Eines: Die Musik lässt sich auch von einer Pandemie nicht aufhalten! Beim Hören von „Oder Enkel kommt vor Essenz“ und „Burr“ bin ich erschrocken, wurde ich mitgerissen, gegruselt, entspannt. Es erklangen ein ganzes Orchester, einzelne Instrumente(ngruppen) und menschliche Stimme. Ebenso vielfältig und interessant habe ich diesen Festivaljahrgang erlebt.