Im kleinen Sendesaal im Haus des Rundfunks probt Johannes Schöllhorn die Uraufführung seiner Komposition „tra un fiore colto el’alto donato“, und ich darf als einer der ersten Zuhörer dabei sein!

Als ich eintrete, bin ich zuerst desorientiert, denn im Saal umzingeln acht Lautsprecher die Beteiligten, sodass es kein klares „Vorne“ zu geben scheint. Schöllhorn gegenüber, stirnseitig im Saal, sitzt Damian Marhulets an der Live-Elektronik an einem Tisch. Darauf kann ich einen Synthesizer, Interface, Laptop und eine Menge Kabel ausmachen. Die Musikerinnen des Duo Mixtura, Katharina Bäuml (Schalmei) und Margit Kern (Akkordeon), stehen und sitzen jeweils links und rechts an seiner Seite. Ich werde herzlich empfangen und beschließe, mich etwas abseits, an einen Lautsprecher zu setzen. Diese Aufstellung, das wird mir nach der Aufführung klar, ist bereits die greifbare, physische Ausgestaltung der kompositorischen Form, in der Akkordeon und Schalmei niemals gleichzeitig spielen, aber trotzdem Parallelstellen mit gleichem musikalischem Charakter gestalten müssen. Selbst für Bäuml und Kern, die als Duo äußerst erprobt sind, sei diese paradoxe Situation sehr ungewohnt, sagen beide. Bevor es losgeht, müssen sie sich deshalb unisono einspielen. Schließlich sind alle bereit und warten ruhig und gespannt auf den Beginn von Margit Kern.
In die Stille hinein erklingt ihr erster Ton: lang, extrem hoch und obertonarm, zum Verwechseln ähnlich einer synthetischen Sinuswelle, sodass ich verwirrt zu Marhulets blicke, der aber noch regungslos dasitzt. Der Sendesaal wird zum Resonanzkörper für das Akkordeon. Eine Wand fängt an, zu rasseln und der Klang scheint im Raum zu kreisen. Kurz denke ich, Lautsprecher würden das unverstärkte Akkordeon ausstrahlen. Kern geht zur Zweistimmigkeit über und mir wird Schöllhorns Minimalismus bewusst, als ich mich daran erinnere, zu wie viel mehr Stimmen das Instrument eigentlich fähig wäre. Stimmenanzahl und Ambitus nehmen mit der Zeit zu. Marhulets ergänzt Kern durch einen leisen, hallenden Klang seines Synthesizers, der aus lediglich zwei Lautsprechern erklingt. Die Abstände zwischen seinen Einsätzen schrumpfen, gleichzeitig steigert er die Dynamik und Stimmenanzahl. Das Akkordeon spielt nun Phrasen im Staccato mit großen Intervallsprüngen. Immer mehr Lautsprecher strahlen die elektrischen Sounds aus. Im tatsächlichen Raum entsteht ein zweiter, wahrnehmbarer Raum, der sich immer mehr erweitert, bis das Akkordeon verklingt und Marhulets allein zu hören ist. Seine Sounds erscheinen sehr natürlich, wie das Aufschlagen von Perlen aus Glas, Holz, Metall, und Stein. Im Hintergrund mit großem Hallanteil sind subtile, lange Töne und Akkorde hörbar. Marhulets scheint den dynamischen und räumlichen Höhepunkt erreicht zu haben, da macht sich Bäuml bereit und setzt zum ersten Ton an. Später verrät sie, dass dieser Moment für sie eine besondere Herausforderung ist, denn nach den ersten zwei Formteilen, in denen sie pausiert, sei der erste Einsatz für sie ein Kaltstart. Er gelingt. Fanfarenartig dringt der markante Klang der Schalmei in den von der Elektronik geschaffenen Raum ein. Marhulets‘ Sounds und räumliche Gestaltung der Lautsprecher bauen ab wie sie begannen und der Raum verkleinert sich allmählig wieder auf seine tatsächliche Größe. Wie zuvor Kern geht jetzt auch Bäuml zu großen Staccatosprüngen über, die sie mit unvorhergesehenen Pausen absetzt. Wiederum ändert sie den musikalischen Charakter und wechselt jetzt zwischen sanglichen und abrupten Phrasen. Ein letztes Mal setzt sie zu einem langen, kräftigen Ton an und bevor ich den Schluss ahnen kann, ist er da.
Erschrocken krame ich in meinen Notizen nach einer schlauen Frage, die ich dem Komponisten stellen möchte. Als ich ihn auf die musikalische Form anspreche, sagt Schöllhorn ernst: „Das Stück ist so seriell, das hält kein Schwein aus.“ Trotzdem will er den Musikerinnen und Musikern interpretatorische Freiheiten überlassen, sagt er. Die Artikulation der Phrasen und auch die Länge der Pausen dazwischen beispielsweise sind frei interpretierbar. Für die Live-Elektronik hat er zwar hüllkurvenartige Verläufe notiert, er wollte hier aber nichts detailliert festschreiben: „Das Problem mit der Notation ist, in dem Moment, wo ich etwas notiere, ist es gleich veraltet.“ Er erklärt weiter, er wolle vermeiden, dass speziell die Stimme für Synthesizer, durch genaue Vorgaben an den jetzigen technischen Stand gebunden ist und so in ein paar Jahren schon nicht mehr spielbar sein würde. Schöllhorn schafft also Nachhaltigkeit in einer Szene, in der Werken das Schicksal von Einwegartikeln droht, indem sie nach ihrer Uraufführung nie mehr auf die Bühne kommen, weil sowohl manche Veranstaltende wie auch ihr Publikum die prestigeträchtige Zusatzbemerkung „Uraufführung“ in ihren Programmheften zu sehr lieben.