Leises, angeregtes Gemurmel ist von allen Seiten des Saals zu hören. Besonders prägnant sind die Wortschwaden, die den leicht muffigen Geruch des Saals thematisieren. Die stundenlagen Proben des vorigen Morgens hängen noch schwer in der Luft. „Erinnert mich an eine volle Berliner U-Bahn im Sommer“, wispert eine ältere Frauenstimme eine Reihe hinter mir. Ein Vergleich, mit dem jeder Berliner etwas anfangen kann. Dieser Ort, eine U-Bahn, wird zum Schauplatz des Eröffnungskonzerts des Deutschen Symphonie-Orchesters für das alljährliche Festival Ultraschall Berlin.
Die Komponistin des ersten Stücks, „dropped.drowned“, Sarah Nemtsov betritt die Bühne. „Meine Mutter war Malerin“, erzählt sie. Als sie schon schwer krank war, hätten sie gemeinsam ein Bild mit Ölfarben gemalt. Das sei eine große Inspiration für die Komposition gewesen. Wie ihre Mutter die Farben für das Gemälde auswählte, wählte Nemtsov die Instrumente für ihr Stück. „Zuerst dachte ich: Ich will kein Goldgelb, also keine Oboen und Trompeten.“ Später habe sie sich dann aber doch umentschieden. Dafür verlegte sie diese beiden Instrumente in den hinteren Teil des Zuschauerraums. Und: „Es ist Krach dabei, aber auch Naturklänge“, kündigt Nemtsov an und verlässt die Bühne.
Diese Worte hängen noch in der Luft, als die ersten Töne den Saal erfüllen. Es sind Streicher, die mit dem Bogen leise auf die Saiten klopfen. Es beginnt eine nächtliche U-Bahn-Fahrt, bei der an jeder Station eine andere Klangfarbe hallt.
Die nächste Station ist eine dunkelblaue, sternklare Nacht. Zu hören sind säuselndes, beinahe unheimliches Windrauschen, Zikaden, Regentropfen… – da sind sie, die Naturklänge, von denen Nemtsov sprach. Erzeugt werden sie vor allem von den beiden modifizierten heimlichen Protagonisten des Stückes: dem Klavier und der Harfe. Darunter mischt sich das Geräusch eines verrosteten Metalltors, das nach einer Ladung Öl lechzt. Eine knarrende Holztür. Hohe, hysterische Schreie, vielleicht von Vögeln, die plötzlich über uns ihre Kreise ziehen, von den Streichern erzeugt. Schwaden aus einer Nebelmaschine kriechen langsam über den U-Bahn-Boden. Immer mehr einzelne Töne erfüllen wie Farbtupfer den Raum, einem unsichtbaren Drehbuch folgend, sie fügen sich zusammen und bauen dabei eine enorme Spannung auf.
Als diese fast nicht mehr auszuhalten ist, ertönt plötzlich laute Musik von hinten. Ohne Vorwarnung setzen die Trompeten im ersten Rang des Zuschauerraums ein und erzeugen unangenehme, schnarrende Töne. Auch die Blasinstrumente auf der Bühne werden immer lauter. Es wirkt alles so dissonant, nicht aufeinander abgestimmt, aber auf die schönste Art und Weise. Am Ende des Stückes fällt ein Glas um, dann einige Sekunden der Stille. Alle beginnen zu klatschen. Der muffige U-Bahn-Geruch vom Anfang ist verflogen, aber die Vorstellung der klingenden Farben bleibt.