Notos, der Südwind. Sanft in den Bäumen spielend, stürmisch über Felder peitschend. Im Konzertsaal des Radialsystems in Friedrichshain ist es etwas kalt, hinter langen schwarzen Vorhängen blitzt die Backsteinmauer des Gebäudes hervor. Über der Bühne, auf denen das Notos Quartett probt, leuchten matt rosa ein paar Neonleuchten. Darunter führen Streicher und Klavier einen wütenden Dialog, die Violinenklänge schrauben sich in die Höhe, die Töne der Klaviertasten antworten immer abrupter – bis sich das Ganze wieder in Harmonie auflöst. Als die vier aufhören zu spielen, lässt Andrea Burger den Bogen noch einen Moment über ihrer Bratsche schweben, wie um dem nachhallenden Klang des Stückes nachzuspüren.
Denn die Stücke im Repertoire des Notos Quartetts sprechen in Bildern; sie erzählen Geschichten von schwarzen Löchern, von spanischer Lebenslust, von Naturgeistern in Mexiko. Wenn die Musiker zusammenspielen, versuchen sie gemeinsame Bilder zu entwickeln – das hilft sich in die Stücke hineinzufühlen, wie Schauspieler in ihre Rollen. Denn dem Quartett geht es auch darum, beim Spielen den „gleichen Puls gemeinsam zu spüren“, wie der Violinist Sindri Lederer erklärt. So kommt es dann auch bei Konzerten zu dem Moment, in dem es „Klick“ macht, in dem die vier nicht mehr einzelne Subjekte sind, sondern als Einheit eine Klangwelt erschaffen – „etwas Gemeinsames“.
Natürlich gibt es auch viele Momente, in denen es nicht „klickt“, jedes Stück hat seine eigenen Schwierigkeiten beim Einüben, erzählt die Pianistin Antonia Köster. In der Probe für ihr Konzert beim Ultraschall Festival im Radialsystem werden schwierige Stellen immer wieder durchgegangen, für eine Sequenz setzt sich der Violinist Sindri Lederer in die Publikumsreihen, um den anderen aus der Perspektive eines Außenstehendes zuzuhören. Für ihn ist das musikalische Schaffen eine Entwicklung, „alles ist im Fluss“ erklärt er – ganz wie die Gravitationswellen in dem Stück „Gravity“, die ihre Kreise durchs Weltall ziehen.
Ein Konzert, nach dem das Quartett zu hundert Prozent zufrieden ist, gibt es für sie nicht. Aber dann gäbe es auch keinen Anreiz mehr, weiterzuspielen, wenden die vier lachend ein, so komme man ja nicht weiter. Ein übergeordnetes Ziel hat das Notos Quartett trotzdem nicht, es geht ihnen eher darum, das Quartett, das schon seit 2007 existiert und zahlreiche Preise gewonnen hat, am Leben zu erhalten. Andrea Burger beschreibt lächelnd, dass die Gruppe „wie ein Baby“ ist, „wir sind es und wir sind ein Teil davon“. Das ist es auch, was die Pianistin Antonia Köster am schönsten an der Arbeit im Quartett findet, die intensiv miteinander verbrachte Zeit (auch durch das viele Reisen), die Höhen und Tiefen die die vier im Laufe der Jahre miteinander durchleben.
Wie auch Notos, der griechische Windgott, mal sanft und mal rau ist, so unterscheiden sich auch die Werke im Programm des Quartetts. Sie schwanken zwischen gestrichenen langen Tönen, rabiat gezupften Klängen auf Violine und Bratsche und wahren Explosionen im Klavier. Mit zwei der Komponisten dieser Stücke haben die Musiker persönlich zusammengearbeitet und konnten so auch ihre eigenen Ideen mit einfließen lassen. Meistens aber sind die Noten sehr exakt geschrieben, die Komponisten legen genau fest, wann leiser und wann lauter gespielt wird – oder wie das Instrument gehalten wird. Andrea Burger holt die Notenblätter für das Stück des Spaniers Jesús Torres hervor, in denen er vermerkt, wann die Violine und Viola wie eine Gitarre gehalten werden sollen. Trotzdem bleibt der Notentext eine „abstrakte Darstellung des Klanges“: wie ein Schauspieler, der mit seinem Text erst durch sein Spiel eine Stimmung erzeuge, liege es auch an den Musikern, die Klänge und Gefühle real zu machen. Denn die Gefühle, die Musik in Menschen auslösen, sind – wie der Südwind Notos – einfach nicht greifbar.