
Es ist der erste Tag von Ultraschall 2018 und es auch mein erstes Jahr als UltraschallReporterin. Ich besuche gleich am ersten Tag die Generalprobe für das Eröffnungskonzert mit dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin. Ich bekomme die Chance im Anschluss an die Probe mit der Bratschistin Verena Wehling über den Umgang mit neuer Musik im Orchester zu reden.
Im Deutschen Symphonie-Orchester Berlin ist Neue Musik eine Tradition, das heißt, dass das DSO öfter neue Musik spielt als andere Orchester, erzählt sie mir. Verena Wehling selbst steht neuer Musik sehr aufgeschlossen gegenüber. Zuhause hat sie auch Instrumente wie z.B eine Viola d’amore, häufig improvisiert sie auch auf ihrem Instrument.
“Lebendige Musik ist wichtig”, erklärt die Bratschistin, “dies trifft auch auf neue Musik zu, denn neue Musik ist tatsächlich sehr lebendig und vielseitig.” Ich frage sie, ob es nicht ein komplettes Chaos gibt, wenn ungewöhnliche Klänge oder Rhythmen auf den Pulten stehen. Verena Wehling erzählt mir jedoch, dass diese Musik am Anfang zwar schwieriger zu spielen ist, da die Orientierung bei neuer Musik anders sei, da auch die Notationen häufig anders sind als bei älterer Musik. Sie erzählt mir, dass man bei neuer Musik nicht mehr üben muss, als bei älterer Musik, denn es gebe auch bei älterer Musik Stellen, die man jedes Mal üben müsse, wenn man dieses Stück spiele. Bei neuer Musik müsse man zusätzlich die Stimmen “organisieren”, also sich anschauen, was man wo machen muss und wie, und vor allem dies auch in die Stimmen reinschreiben. Sie erzählt mir aber auch, dass sie, als sie noch relativ neu im Orchester war, Stücke vor sich hatte, bei denen sie auch nach einer Woche Spielen, Situationen erlebte, wo sie auf die Bühne kam und erstmal nicht wusste, was sie da überhaupt spielen muss, da die Stücke sehr komplex waren. Sie hatte das Gefühl, sie habe das Stück noch nie gesehen. “Auch schwierig sind Stücke, wo jeder seine eigene Stimme hat, denn dann ist das Stück so komplex, dass man gar nicht mehr weiß, wie man sich orientieren soll.” Verena Wehling meint, dass Musik Ohren öffnen solle und uns verleiten solle, besser zu hören.
“Wenn du nicht zählst, kann es passieren, dass eine böse Überraschung kommt. Dies ist genauso, wie wenn du in der U-Bahn ohne Fahrkarte fährst.” Es kann gut gehen, aber wenn man rauskommt oder an der falschen Stelle reinspielt, ist man erwischt.
Nicht nur bei neuer Musik ist Zählen sehr wichtig, sondern bei jeder anderen auch. Ich frage sie, wie sie sich orientiert, wenn wie bei neuer Musik ständige Taktwechsel sind und auch noch sehr ungewöhnliche Taktangaben auftreten. Verena Wehling beschreibt mir, dass sie durch Taktwechsel sogar eine bessere Orientierung bekommt, da diese auch in ihrer Stimme vermerkt sind. Jedoch muss sie immer aufmerksam sein und immer zum Dirigenten schauen. Auch gibt der Dirigent Heinz Holliger dem Orchester eine zusätzliche Orientierung, dadurch, dass er dem Orchester ganz klar zeigt, wenn eine “große” Ziffer in der Partitur kommt, die den Musikern eine Orientierung geben soll. Wenn man sich bei den vielen Pausen verloren hat, dann kann man sich an diesem Zeichen orientieren. Nicht selten schreiben sich die Musiker auch bei langen und vielen Pausen Bemerkungen in ihre Noten, wie zum Beispiel “Trompete Einsatz mit Achtelnoten” außerdem gibt es häufig auch Stichnoten in den Stimmen, die zeigen, was gerade eine andere Instrumentengruppe spielt.
Am Abend besuche ich das Eröffnungskonzert und ich habe die Informationen mitgenommen, die ich am Vormittag bekommen habe. Ich schaue genauer hin und tatsächlich sehe ich, wie Heinz Holliger dem Orchester die “großen” Ziffern zeigt. Das Eröffnungskonzert läuft sehr gut und ich kann mich durch das Gespräch mit Verena Wehling plötzlich viel besser in die Lage der Musiker versetzen.