
Auf der Bühne des Radialsystems sitzt der Schauspieler Gerd Warmeling und vor ihm steht ein Lesepult. Um ihn herum ist das Licht zu einem kastenförmigen Kegel gerichtet. Er liest aus Dieter Schnebels Werk „Sprech- und Gesangstechniken“ eine etwas gekürzte Passage. 1970 schrieb Dieter Schnebel diese „wissenschaftliche Arbeit“ über die Emanzipation der Stimme in der Vokalmusik des vergangenen Jahrzehnts. Keuchen, Lallen, Schreien, Murmeln, Flüstern – alles beachtet er und nimmt die Entstehung der Vokale und Konsonanten in Verbindung mit Lauten, die entstehen, sobald wir den Mund öffnen, genauer unter die Lupe. Es sind oft unerkennbare, sinnlose Laute, die Menschen von sich geben, doch Schnebel versucht sie auseinander zu nehmen und die Entstehung zu erklären. Der Körper ist unser persönliches Musikinstrument, welches wir täglich nutzen, nur nutzen viele es unbewusst und dadurch nicht voll ausschöpfend. Die Stimme wird entfesselt und sobald wir den Mund öffnen, kommen, in welcher Weise auch immer, Ton- und Klanggebilde zustande.
Jeder Mensch spricht ein a oder auch ein u komplett anders aus, wobei es bei allen eigentlich auf die gleiche Abfolge von Luftzirkulation, Lippen- und Zungenbewegungen zurückzuführen ist. Doch jeder hat eine andere Mundgröße, Zahnstellung, Zungenlänge und auch eine andere Sprachausbildung. So lässt sich nur im Ungefähren bestimmen, wie beispielsweise Sänger das Stück vortragen sollen, wenn es von vielen Faktoren abhängig, wie ihr Klang und die Resonanz, wirkt und erlernt wurde. Es ist abhängig vom jeweiligen Gesangslehrer, aber schon viel früher abhängig von der Herkunft, der Erziehung, dem Lebensstandard und der Ausbildung. Im Wesentlich geht es bei der Artikulation aber darum, dass man wissen sollte, was genau der Körper bei jedem Buchstaben macht. Aufgrund dieser verschiedenen Eigenschaften ist die Umsetzung der Anweisung in den Noten intuitiv und es ist nicht genau bestimmbar, wie das Endergebnis klingen mag. Trotzdem ist es ein methodisches Vorgehen. Lautkomplexe, die als Ketten Sätze ergeben, sind verbunden mit Dynamik und Tempo.
Es ist ein faszinierender Text, den Schnebel 1970 ausgearbeitet hat und womit er vieles festgelegt und erforscht hat. Unsere Stimme ist also nicht natürlich gesteuert, sondern ob wir aggressiv, schmeichelhaft, langsam oder schnell, laut oder leise klingen, entsteht alles durch äußere Einflüsse. Für jeden, der seine eigene Stimme und die vielen Möglichkeiten und auch wichtigen Anwendungen näher kennen lernen möchte, sind Dieter Schnebels Texte herausragend geschrieben und sehr gut zu verstehen. Sowohl die Rundung oder Spreizung der Lippen, die Atemtechnik und die Zungenlage bestimmt jede einzelne Vorgehensweise bei Buchstaben und bei unserem täglichen Sprechen.
Nach dem Vortrag probierte ich selbst einmal aus, ob ich das o oder das i so forme, wie Schnebel es beschreibt und auch werde ich in Zukunft wahrscheinlich stärker auf meine Artikulation achten, da es sehr spannend ist, den Körper und einen der wichtigsten Bewegungsabläufe besser kennen zu lernen. Auch erinnerte mich die Erzählung über die verschiedenen Formen der Lippen an unseren Gesangsworkshop mit den Neuen Vocalsolisten vorgestern, die uns gezeigt haben, wie man es schafft, Obertöne zu singen oder auch den Strohbass zustande bringt. Auch hier brauchte man volle Kontrolle über alles, was sich um den Mundbereich abspielt. Eine einfache Mundstellungen wie ein o, kombiniert mit einem „ng“ im Rachen, was man während des Vokals vorne noch leise im Hintergrund beibehalten soll, führt je nach Weite der Lippenöffnung zu den verschiedensten Obertönen. Mit dien ersten Beobachtungen meiner eigenen Stimme wirkte Schnebels Text noch interessanter.
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