“Ich sehe nicht und höre nicht wie Sie.“ – Diese Aussage Claude Debussys aus einem der wenigen Interviews mit ihm findet nicht nur im Sprechteil von Mauricio Kagels „Interview avec Monsieur D“ Verwendung, sondern beschreibt auch die gesamte Konzeption des Stückes. Ein „typisches missglücktes Interview“, ein für Debussy fast schon zur Gewohnheit gewordenes aneinander Vorbeireden. Das einzige offensichtlich Untypische an diesem Interview allerdings sind die Dialogpartner: das Deutsche Symphonie-Orchester, das sich in der Rolle des Fragestellers in einen Dialog mit einem französischen Sprecher, Udo Samel, befindet. Ich nehme an, dass nicht nur ich mich vorher gefragt habe, wie genau ein Orchester sich so ausdrücken kann, dass es beim Publikum deutlich ankommt. Denn lässt nicht gerade die Musik so oft den Spielraum für eigene Gedanken und Interpretationen, ist mehr Inspiration zu eigenem Denken als Medium zu Übermittlung von konkreten Aussagen?
Als das Orchester dann zu spielen begann, wurde mir relativ schnell klar, wie diese Musik funktioniert. Sie schränkt die eigene Fantasie nicht ein, im Gegenteil. Immer wieder meinte ich, Debussy zu hören, und zwar mit allem, was dazu gehört: zarte Streicher, exotisch anmutende Skalen, viele Holzbläserstellen, ja, aber vor allem auch Bilder im Kopf. Bilder von Naturlandschaften, von plätschernden Flüssen und singenden Vögel, von stimmungsvollen Sonnenuntergängen – kurz: Debussy-Bilder. Doch so schnell, wie dieser Eindruck gekommen war, war er auch schon wieder verschwunden. Ein lautstarkes Signal von Seiten des Schlagwerks, und schon entgleiste der Orchesterklang in wilde Ausschweifungen, bis von Debussy schließlich gar nichts mehr zu erkennen war. Die Bilder verschwammen und verschwanden schließlich komplett. Das Orchester, der Interviewer also, hatte Debussy mal wieder nicht richtig verstanden. So war es also, wie der Dialog funktionierte: Das Orchester stellt eine Frage, die zwar Debussys Aussagen und allgemeinen Ansichten streift, dann aber doch in einer falsche Richtung geht und voreilige Schlüsse über ihn zieht. Das Ganze allerdings auf eine Art und Weise, dir mir als Zuhörer meine Vorstellungskraft ließ, sie aber in eine bestimmte Richtung lenkte, sodass die Botschaft trotz aller Bilder unmissverständlich blieb: Debussy mochte keine Interviews, und genauso wenig tat es Mauricio Kagel, der in diesem Werk nicht nur aufgrund der Erfahrungen Debussys, sondern auch aus eigenem Bedürfnis die journalistische Form des Interviews auf die Schippe nimmt.
Dass dies mitunter nicht nur unterschwellig durch musikalische Anlehnung an Debussy, sondern sehr überspitzt und mit einer gehörigen Portion genial angewandter Ironie passierte, wurde sehr bald bewusst. Jeder Orchestereinsatz nach einer gesprochenen Textpassage war im Prinzip eine verzerrte, absichtlich falsch interpretierte Darstellung des eben Gesagten. Sagte zum Beispiel Claude Debussy bzw. sein Sprecher, dass er versuche, so wenig Musik wie möglich zu hören, reagierte das Orchester mit ein paar übertrieben ausgedünnten, allerdings umso mehr herausfordernden gezupften Geigentönen, als wolle es sagen: „Ungefähr so, nicht wahr, Herr Debussy?“, womit es natürlich in einer Weise falsch liegt, die jenseits jeder Anwendung von gesundem Menschenverstand liegt. Auch die den „bruit“, wörtlich „Lärm“, den Debussy aus seiner Umgebung vertont, darstellende Stelle strotzt nur so von Übertreibung. Während Debussys Klangfarbe für gewöhnlich eher zart ist, nimmt das Orchester, alias der Fragesteller, den „bruit“ wörtlich und verwandelt ihn in einen Klang, den Debussy nie so komponiert hätte.
Dass nicht nur ich begeistert war und hin und wieder schmunzeln musste, ist klar – auch um mich herum konnten viele meine Begeisterung teilen. Viele, das heißt, der des Französischen mächtige Teil des Konzertes, oder wie es UltraschallReporterin Lea beschrieb: „Es war, als hätten das französischsprachige Publikum und das Orchester einen Insider-Witz miteinander“. Denn auch wenn die vollständige Übersetzung des Textes vor Beginn des eigentlichen Stückes mit Sicherheit gut gemeint und sicherlich auch dem allgemeinen Verständnis zuträglich war: die Treffsicherheit der Ironie und die daraus resultierenden komischen Momente eröffneten sich dem Publikum ohne Französischkenntnisse dann doch nicht.
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