
Als das Deutsche Symphonie-Orchester am Sonntag Abend zu spielen begann, hatte es eine kurze Erläuterung vorweg gegeben, sodass ich bereits einiges an Vorwissen über das Stück hatte. Es begann mit verhängnisvollen Glockenschlägen, die durch den komplett ruhigen Saal hallten. Ding dong. Kurze Pause. Ding dong. Pause. Ding dong. Ich merkte, wie ich eine Gänsehaut kriegte. Von da an war klar: dieses Werk brauchte eigentlich keine Einführung. Es sprach für sich. Die auf hohen Tönen vor Angst zitternden Violinen kündeten genauso eindeutig vom Tod wie die vor schlechten Vorahnungen brummende Bässe und das vom unabwendbaren Schicksal tönendes Blech. Ab und zu ertönen Schläge des Schicksals in verschiedenen Klangfarben; aus klanglichen Verdichtungen geradezu herausspringende Angst vor dem Unbekannten ergreift mich als Hörer.
„Jetzt und in der Stunde des Todes“ – Diese Zeile bildet nicht nur den Abschluss des Ave Marias, dem nach dem Vater Unser mit Sicherheit am häufigsten gesprochenen Gebet in der römisch-katholischen Kirche, sondern ist auch der Titel von Heinz Winbecks 5.Sinfonie, die mit ihren fast 60 Minuten den längeren ersten Teil des Abschlusskonzertes ausfüllte. Und tatsächlich scheint es Parallelen zwischen Gebet und Sinfonie zu geben. Während die Betenden im Ave Maria um die Fürsprache Marias im Leben und im Moment des Todes bitten, handelt es sich bei Winbecks Sinfonie um eine „musikalische Nahtod-Erfahrung“. Die „Stunde des Todes“, also die Erfahrung, sein Ende nahen zu sehen, sind nicht noch nicht endgültig oder anders gesagt: unvollendet. Genauso unvollendet ist auch Bruckners 9. Sinfonie, deren Finale nur fragmentarisch vorliegt. Genau diese Sinfonie Bruckners hat Winbeck dazu inspiriert, seine eigene 5. Sinfonie diesem unvollendet Sein zu widmen. Denn natürlich geht es in Winbecks Stück nicht um irgendeine Nahtoderfahrung, es geht um die letzte Zeit eines Komponisten. Es geht um seine Versuche, noch etwas zu Papier zu bringen; und es geht um seine Erfahrungen damit, an eigentlich gut bekannten Arbeitsweisen zu Scheitern. Es ist allerdings, entgegen meiner ersten Vermutungen, kein Versuch, Bruckners 9. Sinfonie zu vervollständigen. Den hatte Winbeck schon einige Jahre zuvor für gescheitert erklärt. Es ist vielmehr der Versuch, die Emotionen und Wahrnehmungen des sterbenden Bruckner in seiner Musik abzubilden.
Aber es war nicht nur die intensive Anfangspassage, die bei mir diese Gänsehaut erzeugte. Es waren die dramatischen Entwicklungen im Stück, die mich so in den Bann zogen. Immer wieder begann es mit sanften Holzbläserpassagen, begleitet von freundlichen, gezupften Tönen von Seiten der Streicher und fing dann langsam an, sich aufzubauen. Die Dynamik begann sich zu steigern und plötzlich war wieder dieser gewaltige, Angst einflößende Orchesterklang da, der aber auf der anderen Seite auch unglaublich beeindruckend war. Besonders das Klopfen der Kontrabässe auf ihren Saiten hörte sich für mich wie ein gehetzter Herzschlag an, wie ein verängstigtes Fliehen vor dem Terror des herannahenden Todes. Und dann, ganz plötzlich, hörte das Getöse auf. Was übrig blieb, waren die zitternden Geigen, die langsam runter intonierten bis sie schließlich endgültig erstarben. Es fühlte sich an, als würde man miterleben, wie sich Bruckner immer wieder klare Momente ergaben, die aber innerhalb kürzester Zeit in Angst und Panik umschwenkten. Der Titel des ersten Satzes, in dem sich dieser Spannungsverlauf häufiger wiederholte, beschreibt das Gefühl des Abschieds, dass der sterbende Komponist Bruckner möglicherweise empfunden haben wird. „Herr, bleibe bei uns, denn es will Abend werden“ – eine Bitte also, die auch die Religiosität Bruckners zum Ausdruck bringt.
Der zweite Satz, „Komm, heiliger Geist, und entzünde…“ ist dagegen mehr den letzten Versuchen, noch einmal auf die Beine zu kommen, gewidmet. Dabei fallen mir neben den Elementen aus dem ersten Satz besonders die eher tänzerischen Passagen auf, die die trotzdem noch vorhandene Lebensfreude des Komponisten zum Ausdruck bringen. Einige ruhige Passagen dagegen riefen in meinem Kopf Bilder von Landschaften hervor, die auch in bei mir als Hörer für eine gewisse Melancholie sorgten – denn so nah, wie sich Bruckner dem Tod befindet – wie oft wird er noch diese Naturschauspiele erleben können? Der dritte Satz trägt schlussendlich den Namen des Gesamtwerkes und transportiert auch musikalisch einen gewissen Gesamteindruck. Nach einem Schlag auf die große Trommel ist es vorbei mit Landschaftsbildern und vor Lebensfreude strotzenden Tänzen, und die emotionale Aufgewühltheit findet ihren Weg zurück in den Komponisten und ins Publikum. Als das Stück zu Ende ist, bin ich zunächst überrascht. Das sollten wirklich 55 Minuten gewesen sein? Für mich verging die Zeit wie im Flug, so hatte mich dieses Stück in seinen Bann gezogen.
Die Resonanz war allerdings nicht nur positiv. In das Klatschen des Publikums mischten sich zwar einige begeisterte „Bravos!“, aber auch einige Buh-Rufe waren zu hören. Auf Nachfrage bei den unzufriedenen Teilen des Publikums ergab sich der Grund dafür relativ schnell. Es sei ein Festival für neue Musik und nicht nur für zeitgenössische Musik, also für ein gewisses Genre und nicht nur für Musik, die zufällig in den letzten zwei Jahrzehnten komponiert wurden. Winbeck selber macht nämlich kein Geheimnis daraus, dass er zwar nicht den Orchesterklang Bruckners oder irgendeines anderen Komponisten zu imitieren versucht, aber durchaus vor allem Bruckner und Maler als direkte Vorbilder und Inspirationsquellen nutzt. Für ihn gehört auch zeitgenössische Musik in eine gewisse musikalische Tradition; auf ein anderes, älteres Stück Bezug zu nehmen ist für ihn nichts Ungewöhnliches. Auch wenn seine Sinfonie den Untertitel „Nach Motiven insbesondere des Finales des 9. Sinfonie von Anton Bruckner“ trägt, einige direkte Zitate enthält und vor allem in den klanglichen Mitteln eindeutig an Malers sinfonische Werke angelehnt ist, ist es dennoch ein eigenständiges Werk. All das stand allerdings nicht nur im Programm, auch die Festivalleiter beriefen sich darauf, ein Blitzlicht geben zu wollen und deshalb auch eher traditionell anmutende Werke mit ins Programm dieses Festivals für neue Musik aufzunehmen. Dennoch scheint der Unmut einiger Komponisten und Künstler insofern berechtigt, dass es sich um das Abschlusskonzert handelte, dass sehr proben- und dadurch kostenintensiv war und zu dem die Zuschauer teilweise extra länger in Berlin geblieben waren. Dass sich da einige mehr “alternative” Musik gewünscht hätte, ist verständlich. Das ändert allerdings nichts daran, dass das Stück unabhängig vom Kontext ein wahres Meisterwerk der eindrücklichen Musiksprache ist.
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