Als wir in den Proben der Neuen Vocalsolisten sitzen, werden wir Zeugen der regelrechten „Instrumentalisierung“ der Stimme. Schwindelerregend höhe Töne, ausgerichtet in exakt austarierter Mikrotonalität, werden getragen von dem breit und tief klingendem Strohbass. Gefolgt von einem „BlubbBlubb“, welches sich wie eine Epidemie schließlich auf alle Stimmen auszubreiten scheint. Eine Ansammlung verschiedenster neuartiger Klänge wie dem Stöhnen, Zischen, Nölen, Hauchen, Hecheln und Schlürfen bilden einen intensiven Eindruck, was für die Stimme im Bereich des Möglichen liegt.
Nach der Probe dürfen wir selbst Interpreten einiger dieser Stilmittel zu werden. Doch bevor wir uns ganz der Stimme widmen, stellen wir (wie es unsere Natur ist) noch einige Fragen an das Ensemble. So finden wir heraus, dass anders als Phoenix16, das Ensemble, das wir vorgestern kennen gelernt haben, die Neuen Vocalsolisten schon seit 1984 bestehen! Damit hat das Ensemble einen beträchtlichen Teil der Entwicklung der neuen Musik mit er- und gelebt. Um diesen Wandel erklären zu können, holt der Tenor Martin Nagy geschichtlich etwas weiter aus. Die Avantgardemusik ging letztlich aus der Zeit nach dem 2. Weltkrieg hervor, welche versuchte, wieder den Anschluss an die Zwölftontechnik von Schönberg mit der seriellen Technik zu finden. Bis dahin, dass schließlich nicht nur Töne und Dynamik organisiert wurden, sondern auch Details wie der Ausdruck der Stimme. In den 50er Jahren entwickelten John Cage und Pierre Boulez das Prinzip des kontrollierten Zufalls; dass sie, vereinfacht, keinen Unterschied in der kontrollierten und unkontrollierten Musik mehr empfanden.
Daraus entstand die Aleatorik. Dies war letztlich der Stilbruch von Überorganisation zur Improvisationskunst, sagt Martin. In dieser Zeit formierten sich die Neuen Vocalsolisten aus damaligen Studenten, welche ihre Stimme bis an die Grenzen erprobten. „Da war es völlig normal, dass man abends stockheiser nach Hause gegangen ist, weil man die verschiedensten Techniken ausprobiert hatte und auch noch nicht konnte.“, erinnert sich lächelnd Martin Nagy, das älteste Mitglied des heute sechsköpfigen Ensembles. In der Musik habe sich aber allmählich ein Elfenbeinturm entwickelt, welcher für die Zuhörer und schließlich auch für viele Interpreten eher hässlich und nicht mehr nachvollziehbar wurde. So fing man in den 90 Jahren wieder an, auf die ästhetischen Werte des Gesangs zurückzugreifen und gleichzeitig mit dem Neuartigen dieser Musik eine Balance zu schaffen. Auf dieser Art waren und sind Komponisten bemüht eine neue Ästhetik mit den ausgefallensten Musiziertechniken zu schaffen.
So können Sänger, wie wir selbst, ausprobieren, mit einem tief gesummten “ng”, einem breiten Lächeln auf dem halb geöffneten Mund und einem anschließend langsamen Formen der Lippen zu einem “o” zumindest die ersten drei Töne der Obertonreihe produzieren! Nach ausgelassenen Versuchen am „Stohbass“ (der wie ein Knarzen klingt), Staunen, zu was unsere Stimme fähig ist, wenn man sie rückwärts benutzt und nach einer Anleitung zum richtigen Schreien, war uns allen ein komplett neuer Blick aufgetan worden, wie wir unsere Stimme nutzen können. Doch bei allem geweckten Tatendrang mahnten uns die Neuen Vocalsolisten zu Vorsicht. All diese Modi zur Benutzung unseres filigranen Klangerzeugers sollte man anfangs in Maßen benutzen. Aber, falls man sich der Modi bedient – nie mit falscher Angst!
Mich selbst hat dieser Workshop sehr geprägt. Nun spreche ich zu Hause wie ein Verrückter vor mich hin, male glissandi-Landschaften vor mein musikalisches Auge, quäke wie ein kleines Kind und knarze, was das Zeug hält. Vielleicht finde ich ja mit etwas Glück einen neuen Weg, Klänge zu produzieren.
_music_ meint
Sehr nice geschrieben/beschrieben ?