Tiefe Elektronikklänge schlagen hart durch den Raum. Eine Stimmung des Schreckens und des Krieges durchzieht den großen Saal im Neuköllner Heimathafen. Erst nach fast 10 Minuten endet die surreale Geräuschkulisse abrupt und wird durch eine hohe, ruhige Sopranstimme ersetzt. Immer mehr Stimmen setzen ein und erzeugen im Laufe der Probe die unterschiedlichsten und ungewöhnlichsten Klangbilder. Diese aber sind nicht nur gebildet aus klarem Gesang, wildem Hecheln, markerschütterndem Schreien und beschwingtem Pfeifen, sondern auch aus berührenden Polyphonien, verwirrenden elektronischen Geräuschen, einer Klarinette und einer Posaune. Die Rede ist von dem Programm des Vokalensembles Phønix16, das am Freitagabend im Neuköllner Heimathafen aufgeführt wird und den Titel „Balkanroute“ trägt. Darüber, wie diese Werkzusammenstellung entstanden ist und darüber, welche Aussagen und Botschaften sie vermitteln möchte, haben wir mit Timo Kreuser, dem künstlerischen Leiter von Phønix16 gesprochen
Zuerst einmal ein großes Lob. Das Programm war ein total beeindruckendes Gesamtkunstwerk und hat uns sehr gefallen. Im Laufe der Probe stellte sich uns vor allem die Frage, wieviel der szenischen Inszenierung vorgegeben war und wieviel im Nachhinein interpretiert wurde. Im Besonderen Bezogen auf Vinko Globokars „Airs de voyage vers l’intérieur“.
Die meisten dieser szenischen Interpretationen sind nicht explizit geschrieben. Es gibt zwar einige Anweisungen wie mit Hand vor dem Mund singen, Pfeifen, aber oft suggerieren die Stücke auch einfach eine physische Bewegung, die wir dann inszenieren und in unser, wie du es genannt hast, “Gesamtkunstwerk” einfließen lassen.
Bei den meisten der Stücke hat sich uns die „tiefere Bedeutung” schnell erschlossen. Wofür aber waren die elektronisch erzeugten und sehr aggressiven Zwischenspiele nötig? Natürlich erzeugten sie gute Verbindungen der verschiedenen Werke, aber dennoch wirkten sie auf uns oft bedrohlich und verunsichernd. Gefühle, die bei den anderen Stücken weniger entstanden. Wie passt das hier hinein?
Das erste Stück von Mimaroglu, das türkische Stück, heißt „Agony“ (Todeskampf). Es hat als Bezugsquelle die Situation des Vietnamkrieges. Also hat die Gewalt, die man darin hört, einen sehr, sehr reellen Bezug. Das große Werk von Ivo Malec, „Triole“, aus dem wir zwei Teile spielen, „Turpituda“ und „Nuda“, hat dagegen keine offengelegte Geschichte. Aber in der Partitur, es gibt auch eine Partitur für elektronische Stücke, steht: „This should be listened to very very very loud.“ Und dann hat er handschriftlich zugefügt, dass die Ohren bluten sollen. Es hat etwas Rabiates und durchaus auch Provokatives, Aggressives und das passt natürlich auch irgendwie in den Kontext. Insofern ist die Musizierhaltung der entscheidende Grund, warum ich das genommen habe.
Warum hat der Komponist des im Programm letzten Stückes Posaune und Klarinette verwendet? Wir haben uns mal mit einem anderen Stück beschäftigt, in dem diese Instrumente genommen wurden, weil sie der menschlichen Stimme ähnlich sind. Würden Sie sagen, dass das hier ähnliche Gründe hat?
Natürlich kommt dann irgendwann auch mal die Probenarbeit dazu und das ist unterschiedlich schwer. Für das Konzert war es für uns nicht so wahnsinnig problematisch, denn Xenakis und Globokar sind Repertoirestücke für uns, die wir schon sehr, sehr viel gemacht haben und wegen der wir auch immer wieder angefragt werden. Das war dann nicht so ein Problem und diese Malec Dodecameron und Sacač Umbrana das liegt uns. Und das ging dann in den Proben doch recht zügig und schnell bis wir ein gutes Ergebnis hatten.
An der einen Stelle in dem „Aire de voyage“ haben die verschiedenen Stimmgruppen sich gegenseitig dirigiert. Wie schafft man es, so etwas zusammen zu bringen? Wie schafft man es, hier einen guten Klang zu erzeugen?
Ich hab mit den Sängern schon in der Probenphase relativ viel dirigieren geübt. Wir haben zusammen einen Dirigierworkshop gemacht was Sänger ja nicht unbedingt können müssen. Aber wir haben das dann zusammen trainiert und dann mit den Beiden, die da auch schon ein bisschen Erfahrung drin haben … Dann sitzt du halt einfach am Tisch mit der Partitur und koordinierst die Tempi. Und dann müssen die halt einfach ja ne das war ein bisschen zu schnell ihr kommt jetzt nicht zusammen raus, dass die das so im Gefühl drin haben. Wie das irgendwie funktioniert.
Vinko ist selbst Posaunist gewesen und spielt eigentlich immer noch. Er sagt das immer so: „Morgens zum Training, um fit zu bleiben.“ Vor 6 Jahren hatte er einen schweren Schlaganfall. Er spielt heute nicht mehr öffentlich. Aber ursprünglich ist er eigentlich ein Posaunist, oder besser gesagt: Er ist DER Posaunist. Erst auf dem zweiten Bildungsweg ist er zum Komponisten geworden und er hat relativ früh schon ein Ensemble gegründet. Das war eine Improvisationsgruppe aus vier Leuten. Dort hatte er einen Freund, der Klarinette spielte und den er in sein Stück integrierte. Vinko war vielleicht auch der erste Komponist, der gesagt hat: “Mich gibt es nur in Personalunioin. Wenn ich komponiere, bin ich auch Interpret oder dirigiere oder spiele oder bin Solist.” Er hat also seine eigenen Stücke nicht aus der Hand gegeben. Heutzutage ist das ein bisschen verbreiteter. Bei mir selbst auch. Wenn ich komponiere, gibt es das Stück nur, wenn ich auch dabei bin. Dann bin ich mit auf der Bühne oder spiele selber. Er war damals aber der erste, der das gemacht hat und dadurch kommt diese Besetzung zustande.
Beim Blättern durch die Partitur des letzten Stückes fällt auf, dass es meist keine Taktstriche gibt. Und wenn es welche gibt, dann nur sehr vereinzelt. Wie singt bzw. dirigiert man einen solchen Notentext?
Das ist ein gutes Beispiel dafür, dass natürlich die Art und Weise, wie wir Partituren schreiben oder gewohnt sind, Musik zu lesen, aufgehoben wird. Wir gehen davon aus, dass der Text horizontal in die Zukunft geht und vertikal das Jetzt ist. Das ist in dem Fall von Vinko aber nicht mehr der Fall. Also, es geht los, und dann sagt er „Frauen so und so und dann Männer so und so in einem anderen Tempo“, frei und dann improvisierend. Dann kommt die Posaune an der Stelle, und dort muss es wieder zusammen sein. D.h., man bewegt sich in verschiedenen Zeitebenen und weiß nur, wo man dann wieder koordiniert ist. Das Gefühl, vertikal eine Orientierung zu finden, das gibt es bei ihm halt nur an manchen Stellen. Und das sind dann auch Momente, in denen man als Zuhörer merkt, wie dieses ganze Drumherum, „klack“, aufeinander geht.
Werden alle Geräusche in diesem Stück quasi direkt da erzeugt oder werden da auch manche Sachen eingespielt?
Es gibt eigentlich nur so einen Oldschool-Effekt, den er benutzt. Das Stück ist ja von 1974 und da war noch nicht so wahnsinnig viel mit Elektronik möglich. Der Umgang damit hatte gerade erst angefangen und Vinko hat so etwas benutzt, das man “Ringmodulator” nennt. Man hat ein Eingangssignal und der Ringmodulator ergänzt Frequenzen dazu. Sehr hohe und sehr Tiefe. In diesem Fall werden zwei Ringmodulatoren miteinander gekreuzt. Das kann, je nachdem, was da für ein Signal reinkommt, wie eine extreme Verzerrung klingen, oder es ergibt sich ein Klang, der sich weit aufspreizt. Dann hat man nicht nur einen Ton, sondern plötzlich vier, fünf, sechs. Da sind dann wieder auch ganz hohe und ganz tiefe dabei. Das ist wie ein Schatten, der da mit reinrutscht. Die Quelle dafür sind aber immer die Livegeräusche und nichts, was zugespielt wird oder was errechnet wurde. Es ist also nur diese Signalspaltung.
Was war das Schwierigste in der Produktion dieses Gesamtkunstwerkes?
Das Material zu finden. Man hat oft ein Problem mit dem Material, wenn es um elektronische Komposition geht, weil die damals auf Tonbänder aufgenommen wurden. Viele von diesen Bändern wurden nie richtig digitalisiert und dann hat man die alten Tonbänder, die oft beschädigt sind und man hat ein Problem, an das Material heran zu kommen. In unserem Fall war es so, dass wir weder für den Mimaroglu noch für den Malec Originalmaterial bekommen haben. Wir haben geforscht und jemanden gefunden, der das irgendwann einmal gemastert hat, für eine CD-Aufnahme vor 15 Jahren. Er hatte durch Zufall noch die Festplatte, auf der das Mastertape drauf war. Das war also ziemliches Glück.
Und bei Radovanović, das ist das Stück, wo nur die Stimme aus dem einen Lautsprecher spricht, da hat sich einfach der Komponist total lange geweigert uns, das Aufführungsmaterial zu geben. Er hat Ende der 50er Jahre mit etwas angefangen, das er „Projektivismus“ nennt. Das ist etwas zwischen Konzeptkunst und Performance was, bei ihm irgendetwas mit Musik zu tun hat aber auch mit Philosophie aber auch mit bildender Kunst. Er möchte da keine Einteilung haben, und er hat auch insgesamt gerade mit diesem Stück sehr, sehr schlechte Erfahrungen gemacht. Dass das irgendwie in Museen aufgeführt wurde, aber falsch. Das kam z.B. in der Tate Modern in London. Dort haben sie das Stück mit Kopfhörern abgespielt, obwohl es ja „Voice from the Loudspeaker“ und nicht „Voice from the Headphone“ heißt. Das ist halt was anderes, weil es ja ganz konzeptionell wirklich um den Lautsprecher geht. Und aufgrund dieser schlechten Erfahrungen hat er zu uns erstmal gesagt: „Nix! Gibt’s nicht.“ Und das dann natürlich ziemlich resolut, so wie man auf dem Balkan halt manchmal so ist. Da ich das aber aus meinem Familienhintergrund kenne, hab ich mich mit ihm über E-Mail ausgetauscht und irgendwann war er dann halt beruhigt, dass wir sein Stück richtig verstanden haben. Das wir auch wirklich dafür sorgen, dass es aus einem Lautsprecher kommt, dass der Lautsprecher eine prominente Position hat, dass es nicht als elektronische Komposition verkauft wird usw. und dann war er total glücklich.
Rein formell fällt dieses Werk aus dem Programm heraus. Wie ist es überhaupt zu der Entscheidung gekommen, das Stück mit einzubeziehen?
Die Idee der musikalischen Balkanroute führt ganz automatisch zu Radovanović. Der Balkan ist zunächst einmal mehr als Ex-Jugoslawien. Da leben ja 10 verschiedene Völker, die ganz unterschiedliche Kulturen haben. Man muss also einen Plan entwickeln für die Suche, und die begann für mich in Serbien. Ich wusste, dass es in Belgrad mal ein elektronisches Studio gab. Also für solche Kompositionen wo Komponisten hingehen konnten. Dort gab es die ganzen Geräte für elektronische Musik hatten und das hat Radovanović gegründet.
Beim Recherchieren bin ich halt über dieses Stück gestolpert. Ich finde es genial. Und es ist auch so früh entstanden! Er hat mir dann in unserer Korrespondenz erzählt, dass er das 1958 konzipiert hat, den Text geschrieben hat. Es ist erst 1972 produziert worden, aber er hat es 1958 konzipiert! Das ist also so eine Art von „Protokonzeptkunst“. Da hat selbst Cage noch keine Konzeptkunst gemacht. D.h. all die, die in Europa so berühmt sind für Konzeptkunst haben damals noch gar nichts davon gewusst. Dieser Projektivismus hat außerdem eine philosophische Tiefe, die noch außerhalb des Konzeptes funktioniert.
Wenn ich „Jetzt“ sage, dann ist das nicht das Jetzt, das ihr hört und es ist auch nicht mehr das Jetzt, das vorher das Jetzt war. Es ist ja eine ganz elementare Frage, wie man überhaupt Botschaften vermittelt und den Begriff Medium verstehen muss. Und ich verstehe das Stück auch als Medienkritik, oder eine kritische Haltung, die wir gegenüber Medien haben müssen. Und im Kontext dieses ganzen Konzertes und des Titels “Balkanroute”, aber auch die ganze Art und Weise, in der wir über den Balkan reden oder geredet haben, hat ganz viel damit zu tun, was uns erzählt wird und wie wir das, was wir erzählt bekommen, verstehen oder verstehen wollen und ob das, was da erzählt wird, wirklich das ist, was jetzt passiert. Das ist unser zentrales Thema. Sowohl auf künstlerischer Ebene, theoretischer Ebene als auch auf philosophischer und konzeptioneller Ebene. Das ist für mich also der Kern des Abends.
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