Seitlich des Orchesters sitzend, nehme ich das gerade während der Probe erklingende Reverso von Pascal Dusapin in mich auf. Beinahe sphärische Töne schweben durch den Saal. Erlebte ich kurz vor Beginn der Probe noch fröhliches Gelächter im Saal, Stimmengewirr und eine allgemeine Geschäftigkeit, ist nun alle Aufmerksamkeit den Instrumenten gewidmet. Die Konzentration der Musiker ist fast schon greifbar. Ihr Blick, und bald auch meiner, ist auf den Dirigenten Franck Ollu fokussiert, unter dessen Leitung das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin das Eröffnungskonzert des Festivals für Neue Musik Ultraschall Berlin spielen wird. Im Gespräch erfahre ich mehr über die Arbeit des französischen Dirigenten und seine Einstellung zur Zeitgenössischen Musik.
Franck Ollu stammt aus La Rochelle. Er absolvierte sein Studium in Paris und spielte in den 1990ern als Erster Hornist im Ensemble Modern, bis er 1999 als Assistent von John Adams zu dirigieren begann. Heute ist Ollu ein renommierter Dirigent mit besonderem Engagement für die Oper und Neue Musik. Er leitete zahlreiche bedeutende Orchester und Ensembles, an Orten wie London, Paris, Stockholm, Amsterdam, Brüssel, Wien, und New York. Von 2003 bis 2011 war er Musikdirektor des schwedischen Ensembles für Neue Musik, KammarensembleN. Auf die Frage nach seinen vielzähligen Reisen und Engagements reagiert Franck Ollu bescheiden: „C’est la vie d’un musicien. – Das ist das Leben eines Musikers.“ Und manchmal wäre er lieber etwas mehr zu Hause, gibt er zu.
Der Dirigent wirkt aufgeschlossen auf, gleichzeitig ruhig und besonnen. Bereitwillig lässt er sich auf meine Fragen ein, gibt ausführliche Antworten. Dirigent zu sein bedeute auch viel Schreibtischarbeit. Das Ausarbeiten der Partitur, lange vor den Proben mit dem Orchester, ist wichtig, um eine erste Vorstellung des Werkes zu gewinnen, sich der Aussage und der Besonderheiten des Stückes bewusst zu werden. Bei Unklarheiten stelle er durchaus Rückfragen an den Komponisten, wohl ein Vorteil zeitgenössischer Musik. In der Probe eben hat er in dem mächtigen Klangchaos die Blechbläser angesprochen: „Das dritte Horn hat dort ein h!“ Wie hat er das herausgehört? Franck Ollu lässt mich einen Blick in seine Partitur werfen. Sie ist voller Notizen, Zählzeiten, markierter Passagen, hervorgehobener Instrumentengruppen: alles in verschiedenen Farben. Wenn er ein Detail seiner Anmerkungen bei den Proben nicht hört, kann er die Musiker gezielt danach fragen.
Es ist das erste Mal, dass Ollu das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin dirigiert. Viel Zeit für Proben bleibt nicht. Zwar hat er zum Beispiel das Stück von Dusapin zuvor bereits aufgeführt, doch die Umsetzung mit dem Orchester erfordert jedes Mal viel Arbeit. Während der Probe gewinne ich das Bild eines sensiblen Dirigenten, der die Stimmungen eines Orchesters wahrnimmt. Nicht jedes Orchester stehe Zeitgenössischer Musik aufgeschlossen gegenüber. Sie sei häufig komplizierter als klassische Kompositionen, so Ollu. Ein Genre kündige bereits eine bestimmte Atmosphäre an, provoziere vorgefertigte Bilder im Kopf. Ihm als Dirigenten geht es aber auch darum, sich inspirieren zu lassen, zu interpretieren und daraufhin Entscheidungen zu treffen, sei es auf rhythmischer oder melodischer Ebene. Dabei sei Ausgewogenheit zwischen der Inspiration und der genauen Umsetzung der Partitur maßgebend. Manchmal biete die Partitur zu viel Information und der Komponist laufe Gefahr, die Interpretation dadurch zu kontrollieren und einzuschränken. Dabei sei das nicht immer notwendig. Ebenjener Freiraum ist es, der die Arbeit eines Musikers interessant macht.
„Die Musik der Welt, in der ich lebe“, so bezeichnet Franck Ollu Neue Musik und nennt damit gleich einen seiner Beweggründe, sich mit ihr auseinander zu setzen. Neue Musik – ein Ausdruck, mit der Zeit zu gehen und in seiner eigenen Zeit verwurzelt zu sein.
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