Wer die Heilig-Kreuz-Kirche in Kreuzberg betritt, der erlebt eine organische Symbiose von Alt und Neu. Nicht nur ergänzt sich die Architektur von Stahl und Tuch harmonisch mit der Backsteingotik, sondern auch musikalisch werden hier am Freitagabend ungewohnte Wege beschritten. Auf der Grundlage der Arie Here the deities approve aus dem Orpheus Britannicus von Henry Purcell entstanden im letzten Jahr 15 Werke verschiedener Komponisten. Fünf davon sind Uraufführungen; die anderen zehn wurden 2014 bereits in Frankreich aufgeführt und sind nun bei Ultraschall Berlin zum ersten Mal in Deutschland zu hören.
Das erste klassische Stück wird bei Ultraschall aufgeführt! Um die später folgenden Bearbeitungen verstehen zu können, singt Countertenor Daniel Gloger zu Beginn mit sensibler, beinahe zerbrechlicher Stimme die Originalversion aus dem Jahr 1683; begleitet nur durch den Basso ostinato des Violoncellos. Die Deux paraphrases von Francis Courtot orientieren sich noch überraschend dicht an Purcell. Während die Flöte die Melodiestimme des Tenors übernimmt und dieser lediglich einen Verbindungston zweier Motive schafft, sind große Melodielinien auch im voluminös angelegten Spiel des Ensemble recherche wiederzuerkennen.
Schon in der nächsten Version, Daniele Ghisis So well below, sind lediglich zahlreiche abwärts führende Chromatiken als Durchführung kurzer Phrasen auszumachen. Henry in the clouds with diamonds lässt bei genauem Hinhören die ursprüngliche Harmonik bestehen und ergänzt diesen tonalen Raum ausschließlich in der Melodik. Zum Schluss dieser „Klassik mit Störgeräuschen“ erklingen kurze Soli der Bläser, sodass auch hier eine Mischung verschiedener Stile zu erkennen ist, die dennoch etwas völlig neues kreiert.
Das dünn besetzte und maximal dreistimmige Upon here the deities erzeugt einen filigranen Traum, der vor allem Atmosphäre der Arie als Grundlage hat. Die beim Festival mit white wide eyes bereits gehörte und gefeierte Komponistin Sarah Nemtsov lässt ihr Orpheus falling praktisch werden. So fallen im Laufe der Bearbeitung diverse Gegenstände auf den Boden. Trotz seriöser Aufführung wirkt dies humoristisch, verdeutlicht aber in jedem Fall die Doppeldeutigkeit.
Bemerkenswert ist in der zweiten Hälfte des Abends voller Miniaturen die kleinste, einminütige Abhandlung So well below von Johannes Schöllhorn. In dieser lässt er die Arie instrumentiert in einem irrwitzigen Tempo mit Zwischentönen ablaufen, sodass zwar die Grundanlage erhalten bleibt, die Gesamtdynamik jedoch unweigerlich eine beweglichere Energie erhält.
Den Abend beschließt eine Komposition, vielmehr Inszenierung von Iris ter Schipphorst, deren Name kaum zu schreiben ist. Die Musiker sind allesamt mit Clownsmasken ausgestatte, nehmen sie ab, ziehen sie auf, grinsen hämisch oder lachen laut. Schließlich hüpft Countertenor Gloger in großen Sätzen von der Bühne.
Eine spannende Suche konnte heute jeder erleben, der nach Zusammenhängen zwischen Alt und Neu forscht. Ich finde, beide können und sollten unabhängig voneinander stehen bleiben. Die Neue Musik mit ihren atonalen, assoziativen und experimentellen Methoden und die Alte Musik in ihrer vielleicht altmodischen und simplen, aber doch so bezaubernden Schönheit, welche vor allem in ihrer sakralen Weise eine besondere Form der Demut innewohnt und dadurch wirkt, dass sie sich selbst nicht in den Mittelpunkt stellt.
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