Konzentriert hebt er seinen Kopf, schließt die Augen, spitzt die Lippen und zaubert einen Ton aus dem Nichts herbei. Der bereits beim letzten Ultraschall Berlin wirkende Klarinettist und Komponist Jörg Widmann spielt in diesem Jahr am Samstagnachmittag ein Solo-Konzert für das große Publikum in der Sophien-Kirche Berlin-Mitte.
Die gute Akustik hier hat den Nachteil, dass auch Nebengeräusche gut hörbar sind. In dem Interview mit Widmann gestern hatte er bereits gewarnt, dass es wohl nicht so leise wie bei den Proben mit Aufnahmen bleiben würde. Doch bei diesem Künstler kann man gar nicht anders, als gebannt auf Instrument, Finger und Mund zu schauen. Anstrengend sind die Klänge, die wie auf wundersame Weise entstehen, nur in den seltensten Fällen.
Zu Beginn des Rechant von Heinz Holliger klingen die Töne noch wie Aneinanderreihungen im halbharmonischen Zufallsprinzip, doch im Verlauf der Komposition erkennt man Zusammenhänge. Selbst wenn ich keine konkrete Geschichte dazu erzählen könnte, macht alles seinen Sinn. In Widmanns eigenen Drei Schattentänzen wird es wesentlich konkreter. Der Echo-Tanz arbeitet spielerisch mit Wiederholungen, die durch stampfendes, drachengleiches Atmen gestört werden. Das Ziel des Underwater Dance wird durch das schnelle, mit tiefen Lufttönen gefüllte Klappenschließen verfolgt. Das Blubbern der Blasen zieht sich durch, als befände sich Widmann unter Wasser. Das Klappern macht er sich auch im Danse africaine zunutze, sodass hohe Bongo-Klänge erzeugt werden, die lediglich von Schmatzern, Elefanten- und einem stimmlichen Urschrei durchbrochen werden.
Nach Werken von Wolfgang Rihm und Peter Ruzicka trägt Widmann als gelungene Auflockerung das einzige Stück vor, das nicht explizit für ihn geschrieben wurde: Pour Pablo Picasso notierte Stravinsky an einem Sommerabend für Touristen auf einer Postkarte. Auch wenn es dadurch selbst in der langsamen Variante keine 20 Sekunden dauert, seien diese Vorschlagfiguren ohnegleichen typisch Stravinsky, wie Widmann in dem kurzen Gespräch mit Andreas Göbel ausführt. So seriös und ernsthaft er an die Sache rangeht, so sympathisch und natürlich ist der jung gebliebene Mann außerhalb der Musik. Ein Mensch mit hohem Bewusstsein und starker Überzeugung, doch zugleich ein unbefangenes Kind, das mutig an Herausforderungen wie angeblich unspielbaren Kompositionen wachsen will.
Die Fantasie, welche Widmann im Alter von 19 Jahren schrieb, macht ihrem Namen alle Ehre. Wenngleich weniger komplizierte Techniken als in den neueren Werken vorhanden ist, begeistert sie durch eine Fülle an Klangmaterial. Arpeggierte Akkorde und Tonleitern bilden einen angenehmen Kontrast zu freien Formen wie Blues-Techniken.
Die sieben Notenständer bleiben gleich stehen für Gerhard E. Winklers Black mirrors III für Klarinette und interaktive Live-Elektronik. Durch bestimmte Töne, also Anweisungen mit seinem Instrument, kann Widmann hier die technische Modifizierung selbst mitbestimmen. Neben kleinen Halos um Hochfrequenzen erzeugt er laute Dröhnungen, sanfte Haltetöne und vitale Loops, die aus diesem Werk ein faszinierendes Duett erschaffen.
Für den wortwörtlich langen Atem erntet Widmann nach 90 Minuten tosenden Applaus. Ein Solo-Konzert ist ohne Langeweile geglückt. Dass die Klarinette durch ihre angenehme Tonlage und ein einziges Instrument in seiner Beschränktheit mehr Ruhe ausstrahlt als ein ganzes Ensemble, ist völlig klar. Wie jedem Musiker ist auch ihm klar: „In den leisen Tönen Spannung und Konzentration zu erhalten, ist am schwersten.“ Für Jörg Widmann jedoch kein Grund aufzugeben, sondern sich weiterzuentwickeln.
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