Nicola Sani: Al folle volo für Orchester (2004)
Er hat sich gleichermaßen mit elektronischer und Orchestermusik beschäftigt, sowohl mit dem Filmregisseur Michelangelo Antonioni als auch mit dem Videokünstler Nam June Paik zusammengearbeitet. Doch stets steht bei dem Komponisten Nicola Sani der Klang als Ausgangspunkt kompositorischer Entwicklung im Zentrum des Interesses. Sanis langjährige, intensive Erfahrung mit elektronischen Verfahren der Klangerzeugung und -verarbeitung hat seine Auffassung vom Klang der Orchesterinstrumente und ihre Einsatzmöglichkeiten geschult, nicht zuletzt durch die elektroakustische Spektralanalyse, der Aufspaltung des einzelnen Klangs in das Spektrum seiner Obertöne und ihre Rekonstruktion. Auf dieser Grundlage haben eine ganze Reihe zeitgenössischer Komponisten unterschiedliche Wege gefunden, die Orchesterinstrumente auf neue Weise miteinander in Beziehung zu setzen.
In seinem Orchesterwerk Al folle volo behandelt Sani indes nicht nur die Orchesterinstrumente in einer spektralen Organisation des Materials, sondern richtet konsequent auch die räumliche Anordnung der Instrumente danach aus, was zu einer unmittelbar erlebbaren Raumklangerfahrung führt. Darin öffnet sich direkt sinnlich erlebbar ein überraschendes und äußerst differenziertes Klangspektrum. Der musikalische Satz dieses Werks ist entgegen einer linearen Verlaufsform geradezu vertikal gedacht, darin jedoch nicht statisch, sondern wie ein lebender Organismus gestaltet, indem verschiedene Prozesse simultan ablaufen. Nicola Sani setzt das Orchester wie eine überdimensionale Klangskulptur ein, die akustisch in mehrere Richtungen ausstrahlt und deren heterogene Klangaspekte verschieden wahrgenommen werden können. Al folle volo, 2004 in Sondershausen durch das Loh-Orchester unter Hiroaki Masurda uraufgeführt, gestaltet sich in dieser Hinsicht als veritable Klanginstallation, die jedoch als Orchesterwerk kompositorisch durchgestaltet ist. Das Mit- und Gegeneinander von Klangschichtungen, Farbmischungen und Instrumentengruppierungen, von Bewegung und Flächigkeit reicht bis in kleinste, feinste Schichten der Klangproduktion. Darin werden sowohl orchestrale Massen entfesselt als auch filigrane Konturen freigelegt. Der poetische Ausgangspunkt dieses folle volo, dieses verrückten, tollen Flugs, stellt eine Textstelle aus der Divina Commedia von Dante Alighieri dar: Im 26. Gesang des Inferno-Teils lässt Dante den antiken Helden Odysseus, den Helden des Kriegs um Troja, auftreten. Dieser erzählt, dass er auf seiner Irrfahrt mit der Schiffsbesatzung bis an die Grenzen der antiken Welt gelangte, bis zum Non plus ultra der Säulen des Herkules, wo das Mittelmeer in die damals unbekannten Weiten des Atlantiks übergeht, und der Rand der Erde angenommen wurde. Mit einer Wendung des Schiffs gen Westen versuchte Odysseus die Grenze zu übertreten, wie er sagt: »Wir wandten unser Hinterschiff gen Morgen. Die Ruder hoben wir zum tollen Fluge.« Bei Dante versucht Odysseus das Wagnis, in unbekanntes Gebiet vorzustoßen, die Schwelle des bislang Geglaubten zu übertreten und alle Sicherheiten hinter sich zu lassen. Bezogen auf das Komponieren für Orchester in unserer Zeit ist dies ein eindrückliches Bild für die Suche nach einer Utopie des Klangs. Das gemeinsame Streben der Komponisten unserer Zeit, aber letztlich jeder Epoche, ist es, in neue Räume des Klangs vorzustoßen. Heute wissen wir, dass Odysseus bei seinem Versuch nicht über den Rand der Erde gestürzt wäre, sondern neue Welten gefunden hätte.
Hanspeter Kyburz: Touché für Sopran, Tenor und Orchester. Text: S. Marienberg (2006)
Nach einem Begriff aus dem Fechten ist Touché von Hanspeter Kyburz benannt. Beim Fechten wird “Touché!” ausgerufen, wenn ein Treffer beim Gegner gelingt. Ein verbaler – und damit gleichzeitig ein emotionaler – Schlagaustausch ergibt sich in Kyburz’ Komposition Touché für Sopran, Tenor und Orchester auf einen Text von Sabine Marienburg. Es geht um Kommunikation zwischen zwei Menschen, Schlaglichter werden auf die Beziehungsdynamik eines Paares geworfen. Die Personen, die Sopran und Tenor in ihren Partien zum Klingen bringen, kennen sich augenscheinlich schon lange, so lange, dass die Verwundungen, Verwundbarkeiten und Unzulänglichen des Gegenübers allzu gut bekannt sind. Beide reden nicht nur miteinander, sondern auch übereinander, aneinander vorbei und gegeneinander. In kurzen Äußerungen, zuweilen in Exklamationen, prägnant, knapp, wie bei Stichen, parieren beide auf die gegenseitigen Vorstöße.
Nach einer langen Reihe von Instrumentalwerken konnte sich Hanspeter Kyburz mit Touché, uraufgeführt 2006 beim Lucerne Festival, den langgehegten Wunsch erfüllen, ein Werk zu schreiben, bei dem Singstimmen einem Orchester gegenübergestellt werden. Der Komponist ist bekannt für seinen überaus differenzierten und weitgefächerten Einsatz der vielfältigen Farbwerte des Orchesters und für komplexe, akribisch ausgearbeitete Strukturen in seiner Musik. Kyburz eröffnet in seinen Orchesterwerken hörbar Tiefendimensionen im Klang und erreicht gleichzeitig ein hohes Maß an Klangsinnlichkeit. Die Werke sind nicht nur ein Resultat einer äußerst genauen Kenntnis der Möglichkeiten jedes einzelnen Orchesterinstruments, sondern auch das Resultat einer systematischen Auseinandersetzung mit Formprozessen auf allen Strukturebenen des musikalischen Satzes. Zu diesem Zweck arbeitet Hanspeter Kyburz, der eingehende Erfahrungen mit elektronisch generierten Klängen und Live-Elektronik gemacht hat, mit computergestützten Algorithmen, die jedoch nie struktureller Selbstzweck bleiben. Vielmehr ergeben sich für den Komponisten weitere Möglichkeiten, seine Kompositionsideen zu erweitern. “Kommunikation als gezeigter Gegenstand”, die rhythmischen Qualitäten eines schnellen, auch emotional angefeuerten Dialogs, der verbale Schlagabtausch, das “Mechanische von Rede und Widerrede”, dies sei ihm und der Textdichterin Sabine Marienberg bei der Arbeit an Touché wichtig gewesen, hat Hanspeter Kyburz im Vorfeld zur Uraufführung des Werks in einem Interview einmal gesagt. Selbst die Textstruktur der Vokalpartien ist an den strukturellen Operationen der Musik orientiert. Insofern ist Touché bei aller Dramatik, die stellenweise aufklaffen kann, weder dramatische Szene noch Kurzoper, sondern tatsächlich ein Orchesterstück mit Vokalpartien. Sänger wie Orchesterstimmen reagieren flexibel aufeinander, in harten Kontrasten, aber auch in der Symbiose der verschiedenen Kräfte. Dynamisches und Statisches werden bewusst ambivalent behandelt. Und bei allem ergibt sich ganz nebenbei eine erfrischend neue Sichtweise auf die beiden zentralen Formen des dramatischen Singens, die in der europäischen Kunstmusik hervorgebracht wurden, auf Arie und Rezitativ.
Giacinto Scelsi: Kamakala für Kammerorchester (vor 1960. UA)
“Der Klang ist sphärisch, er ist rund. Stattdessen hört man ihn immer als Dauer, als Tonhöhe. Und darum geht es überhaupt nicht. Alles, was sphärisch ist, hat ein Zentrum. Das lässt sich wissenschaftlich beweisen. Nur wer in den Kern des Klangs vordringt, ist ein Musiker.” Dies war die erklärte Überzeugung eines der bis heute enigmatischsten Komponisten des 20. Jahrhunderts: Giacinto Francesco Maria Scelsi, Conte d’Ayala Valva. Das Prozessuale, zielgerichtete Entwicklungen, Spannungsaufbau, dramatische Entladungen und damit Formprinzipien, die Jahrhunderte die abendländische Musik bestimmten, lehnte Scelsi für seine eigenen Werke entschieden ab. Musik verstand er als Aufgehobensein in Klang. Nachdem er in der Tradition der gemäßigten italienischen Moderne eines Ottorino Respighi und Alfredo Casella ausgebildet worden war, Erfahrungen mit Neoklassizismus und Bruitismus, dem Klangkosmos von Aleksandr Skrjabin, dem Surréalisme und der Reihentechnik gemacht hatte, kehrte er sämtlichen zeitgenössischen Musikströmungen den Rücken. Auslöser war eine persönliche Krise in den 1940er Jahren, offenbar ein Burn-out, der den Rückzug in ein Sanatorium nötig machte. Erst indem Scelsi einen einzigen Klavierton unaufhörlich anschlug und konzentriert auf den Klang achtete, sei er geheilt worden, hat der Komponist stets behauptet. Gleichzeitig hat er sich intensiv mit indischer Philosophie beschäftigt, mit den Schriften der spirituellen Lehrer Sri Aurobindo und Jiddu Krishnamurti, und ist tief in die Yogapraxis eingedrungen. Die Erkenntnisse daraus haben Scelsis Verständnis von Musik nachhaltig geprägt. Fortan betrachtete er sich als Medium für Klänge und entwickelte seine Werke im konzentrierten Zustand der Meditation, offenbar oft als Ergebnisse improvisatorischen Experimentierens, jedoch mit festen Vorstellungen des musikalischen Satzes. Scelsi bezog sich in seinem Selbstverständnis als Komponist explizit auf Ansätze östlichen Denkens, wie er einmal geschrieben hat: “Was ich sagen will, ist, dass in Asien, vor allem in Indien, aber auch in China und Japan dasjenige, was – besonders in der religiösen Kunst – vom Künstler geschaffen wird, weniger ein Kunstwerk ist als ein Mittel, um im menschlichen Bewusstsein etwas Unsichtbares geschehen zu lassen. Somit ist die östliche Kunst nie individualistisch, und sie wird umso intensiver, umso perfekter, je mehr sie sich entpersonalisiert.” Spätestens seit seiner musikästhetischen und kompositorischen Kehrtwende veränderte Scelsi auch die praktische Fixierung seiner Ideen. Er nahm seine am Klavier und zunehmend an der Ondiola, einer frühen elektronischen Orgel, entstandenen Einfälle auf Tonbändern auf, mitunter auch in mehreren geschichteten Aufnahmen, die er dann – vergleichbar mit der Werkstatt eines Renaissancemalers – Assistenten zur Transkription auf Notenpapier gab.
Im Jahr 2012 wurde in Scelsis Nachlass in der Via di San Teodoro 8, wo der Komponist in unmittelbarer Nachbarschaft zum Forum Romanum und zum Kapitol bis zu seinem Tod lebte, zwischen einer Vielzahl von Tonbändern und Papieren ein sensationeller Fund gemacht: Die Partitur eines dreisätzigen Orchesterwerks von Scelsi, niedergeschrieben von einem Assistenten. Dieses Werk mit dem Titel Kamakala, was im Sanskrit “das erhabene Dreieck des göttlichen Wunsches” bedeutet, wurde von Scelsi-Experten zeitlich in die 50er Jahre verortet und schließt damit in der Chronologie von Scelsis kompositorischer Entwicklung eine Lücke. Waren bislang nämlich nur Klavier- und Kammerwerke vor seinem Hauptwerk Quattro pezzi su una nota sola für Orchester (1959) aus dieser Schaffensphase nach seiner Hinwendung zur indischen Philosophie bekannt, zeigt sich Kamakala als ein Orchesterwerk, das noch vor den Quattro Pezzi entstanden ist und somit die Entwicklung von Scelsis Orchestersprache auf dem Weg dorthin dokumentiert.
Helmut Lachenmann: Schreiben für Orchester (2003/2004)
“Hören, in einer Zeit des täglichen Überangebots von Musik zugleich überfordert und unterfordert, und so verwaltet, muss sich befreien durch Eindringen in die Struktur des zu Hörenden als bewusst ins Werk gesetzte, freigelegte, provozierte Wahrnehmung.” Diese Prämisse, die Helmut Lachenmann 1990 formulierte, bestimmt konsequent seine Arbeit als Komponist. Lachenmanns Werke lassen aufhorchen und machen auf sich aufmerksam, weil sie die Hörer auf geradezu radikale Weise aus der Lethargie des Selbstverständlichen und Gewohnten herauslocken. Helmut Lachenmann selbst nennt die Ergebnisse seines Komponierens gerne “Musique Concrète Instrumentale”. Für ihn bedeute Komponieren, über die Mittel nachzudenken. Diese mittlerweile vielzitierte Überzeugung hat er einmal in einem Vortrag geprägt. Die Klänge der Orchesterinstrumente aus der europäischen Kunstmusik werden von Lachenmann durch eine kreative Fülle ungewohnter, überraschender Spieltechniken als etwas Besonderes, Einzigartiges, als etwas völlig Neues präsentiert und damit auch auf eigenwillige Weise miteinander in Beziehung gesetzt. Klänge werden hervorgebracht, auf die der Zuhörer nicht vorbereitet sein kann und denen er sich mit Neugierde stellen darf. “Lachenmann dreht den philharmonischen Teppich herum, um zu sehen, wie gewoben wurde, welche Kraftlinien den Klang durchziehen und wie Klang und Geräusch ineinander übergehen. Dabei wird jedes Instrument neu examiniert und neu definiert. Lachenmann unterstellt gewissermaßen, dass die historische Entwicklung aus einer Vielzahl von möglichen Behandlungsmöglichkeiten nur einige wenige ausgewählt und hochgezüchtet habe, und er bearbeitet nun das ganze Feld spieltechnischer Virtualitäten.”, hat Martin Kaltenecker in einem Aufsatz über den Komponisten dessen Vorgehensweise treffend beschrieben.
In den letzten Jahren hat Helmut Lachenmann immer wieder auch Fragmente bekannter Klänge und Gesten in die von ihm hergestellten Kontexte eingewoben. Am neuen Ort lässt sie dies frappierend und letztlich neuartig erscheinen. Erinnertes und vermeintlich Bekanntes steht in einem völlig anderen Licht. Isoliert, da extrahiert aus der überlieferten Syntax kann es wieder direkt hörend entdeckt und erlebt werden. Der Komponist bezeichnet dieses Vorgehen als “dialektischen Umgang mit dem Alten, Abgenutzten”, wie er es in einem Interview mit der Zeit vor zehn Jahren einmal auf eine Formel brachte.
In Schreiben für Orchester, 2003 in Tokyo vom Tokyo Symphony Orchestra unter Leitung von Kazuyoshi Akiyama uraufgeführt, brechen zuweilen sogar Flashbacks emotionaler Überwältigungsstrategien aus der klassisch-romantischen Musiktradition hervor, Steigerungswellen, Repetitionsfelder und geradezu sphärische Klangillusionen. Gleichzeitig werden die Orchesterinstrumente tatsächlich – und nicht nur die – geradezu wortwörtlich beschrieben. In einer Spielanweisung für die Schlagzeuger heißt es etwa: “Fell mit Bürste ‘schreibend’ gewischt”. Ähnliche Klänge auf der Tierhaut von Pauken und Tomtoms hat Lachenmann auch in seinem Musiktheaterwerk Das Mädchen mit den Schwefelhölzern eingesetzt, worin das gleichnamige Märchen von Hans Christian Andersen in Bezug gesetzt wird mit einem Text von Gudrun Ensslin, die Lachenmann aus seiner Kindheit kennt: “ihre kriminalität, ihr wahnsinn, ihr tod ist ausdruck der rebellion der zertrümmerten subjekte gegen ihre zertrümmerung, nicht ding, sondern mensch. (schreibt auf unsere haut)”, lautet ein Zitat des RAF-Mitglieds Ensslin in dieser Oper. Auch diese Assoziation im weiten Begriffsfeld, das der Titel suggeriert, enthält Schreiben für Orchester.